Der demokratische Rechtsstaat ist keine Selbstverständlichkeit

Dieser Artikel erschien zuerst im Juracon Jahrbuch 2020

Karrierewege sind wandelbar. Wer den Wunsch besitzt, gesellschaftspolitisch Einfluss  zu nehmen, dem eröffnet das Jurastudium ein breites Spektrum an Handlungsoptionen – die auch sukzessive gezogen werden können. Ein faszinierendes Beispiel dafür ist der  Weg von Justiz-Staatssekretärin Dr. Margarethe Sudhof, die der Interviewpartnerin Dr. Anette Schunder Hartung noch aus der gemeinsamen Assistentenzeit an der Frankfurter Universität bekannt ist. 

Frau Dr. Sudhof, Sie sind seit Juli 2019 Staatssekretärin im Bundesministerium der Justiz  und für Verbraucherschutz. Vor dieser Zeit waren Sie neben anderem im Bundesinnenministerium und im Bundeskanzleramt beschäftigt, allein im BMI als Ständige Vertreterin des Abteilungsleiters Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz und als Vertreterin des Bundesinteresses beim BVerwG. Diese ganzen Funktionen haben Sie ausgeübt, nachdem Sie Ihren Berufsweg als Richterin am Verwaltungsgericht begonnen hatten. Was hat Sie daran gereizt, sich nie auf dem Erreichten auszuruhen? 

In meiner beruflichen Laufbahn hat mich stets die Abwechslung gereizt. Mir war es wichtig, mich weiter zu entwickeln. Ich habe sowohl in rein juristischen als auch in interdisziplinären Umgebungen gearbeitet. Beides hat seinen ganz eigenen Charme. An der Arbeit in einem interdisziplinären Team gefällt mir der ganzheitliche und nachhaltige Ansatz; jede und jeder kann individuelle Fähigkeiten und Vorerfahrungen einbringen.

Die Tätigkeit in einem rein mit Juristen besetzten Team ist hingegen durch ein homogenes Diskurslevel geprägt. Wenn alle an einem Strang ziehen, kann man hier zu fachlicher Hochform auflaufen. Mit jedem Wechsel in meiner Karriere habe ich neue Konstellationen kennengelernt, und es war jedes Mal sehr bereichernd!  

Zu den Zuständigkeiten Ihres Hauses zählt unter anderem eine verantwortungsvolle  Gestaltung der Digitalisierung. Auch wenn das natürlich ein sehr weites Feld ist – gibt  es Initiativen, die Ihnen im Rahmen der einschlägigen Maßnahmenpakete besonders am  Herzen liegen, und wenn ja: warum? 

Bei der Digitalisierung geht es mir zunächst um die gerade in diesem Bereich so wichtigen generellen Grundsätze: So wie sich die Technologie weiterentwickelt, müssen wir auch das Recht weiterentwickeln. Das betrifft vor allem die Transparenz und Diskriminierungsfreiheit von  algorithmischen Systemen. Die Datenethikkommission der Bundesregierung hat gute Vorschläge für eine Regulierung gemacht. Sie ermöglicht Innovationen und begrenzt zugleich Gefahren, wenn wichtige persönliche Lebensbereiche wie die Gesundheit oder die freie Berufswahl betroffen sind. Regulierung muss klug gestaltet sein. Es geht um die Ermöglichung von Künstlicher Intelligenz und um deren demokratische Kontrolle. Daran arbeiten wir auf nationaler und europäischer Ebene. 

„Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft grundlegend. Sie hat enorme Auswirkungen auf unsere Demokratie und unser Zusammenleben.“

Befassen Sie sich im Bundesjustizministerium mit Digitalisierungsfragen eher auf praktischer Ebene oder bleibt insoweit auch Raum für weiterreichende, grundlegende Fragen zum Einfluss der Digitalisierung auf die künftige Gewaltenteilung? Parallel zu diesem  Interview haben wir beispielsweise auch den langjährigen Vorsitzenden des Hessischen Richterbunds nach seiner Einschätzung dazu gefragt, wie er zum zunehmenden Einsatz digitaler Instrumente in der Justiz steht. Genauer gesagt, ob er ab einem bestimmten  Punkt eine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit befürchtet. Wie kritisch  schätzen Sie das ein? 

Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft grundlegend. Sie hat enorme Auswirkungen auf unsere Demokratie und unser Zusammenleben. Dabei sind nicht nur wir alle, jeder und jede Einzelne, ganz praktisch und konkret im Alltagsleben betroffen. Es geht um mehr: nämlich um die Organe und Funktionen des Rechtsstaates. Wir müssen deswegen bei der Entwicklung und Anwendung digitaler Technologien von Anfang gewährleisten, dass unsere Grundwerte gewahrt bleiben.

Das betrifft auch und gerade die Justiz. Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass der Staat die beste verfügbare Technik nutzt. Dabei kann aber die technische Finesse nicht der alleinige Maßstab sein. Mindestens ebenso wichtig ist, dass die neuen Werkzeuge unseren rechts staatlichen Anforderungen genügen. Das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit ist natürlich ganz zentral: Einen Rechtsfall verbindlich entscheiden, das kann nur eine Richterin oder ein Richter. So steht es – sinngemäß – in Art. 103 Abs. I GG.

Damit sind der Digitalisierung im Bereich der Justiz enge Grenzen gesetzt; eine Vollautomatisierung ist nicht denkbar. Und wir dürfen auch nicht die soziale Rolle eines Gerichts, besetzt mit „echten“ Menschen aus Fleisch  und Blut, vergessen: Die Rechtssuchenden möchten ihren Fall vortragen, sie möchten gehört und verstanden werden. Das kann eine Maschine nicht leisten. Deswegen: Digitalisierung in der Justiz ja – aber mit Bedacht. 

„Wenn die Frage nach einer neuen Herausforderung kommt, muss man „Ja“ sagen.“

Stichwort Menschen: Inwieweit haben Sie denn als Staatssekretärin, bei der „die Fäden  zusammenlaufen“, noch die tatsächliche Möglichkeit, mit den vielen von ihren BMJ Vorhaben Betroffenen zu sprechen? Kommt da tatsächlich ein Punkt, an dem man – um  es mit einem deutschen Liedermacher zu formulieren: „so mächtig ist, dass man keinen Schreibtisch mehr besitzt“, weil man nur noch herumsaust, sich mit der Ministerin abstimmt und repräsentiert?  

Mein Terminkalender ist in der Tat recht voll. Meine Mitarbeiterinnen im Vorzimmer machen  einen tollen Job und haben meine Termine bestens im Blick. Aber natürlich lese ich mich in alle wichtigen Vorgänge auch selbst ein. Anders geht es für mich nicht. Außerdem pflege ich einen recht unhierarchischen Führungsstil. Das bedeutet, dass ich auch schon mal zum Hörer greife und direkt bei der Fachreferentin oder dem Fachreferenten anrufe, um die nötigen Informationen zu erhalten. In den meisten Fällen ergibt sich daraus ein spannender fachlicher Diskurs.  

Eine hohe Richterin, die ich einmal zu ihrer Vorbildfunktion als berufstätiges Elternteil befragt habe, hat „off records“ schlicht abgewunken: Ihr Werdegang sei viel zu atypisch.  Was denken Sie: Taugen Menschen mit juristischen Ausnahmekarrieren überhaupt als Rollenbilder und wenn ja: inwiefern? 

Unbedingt! Eines kann ich mit Gewissheit sagen: Kein Karriereweg ist planbar. Mir ist es ein besonderes Anliegen, dass Nachwuchsjuristinnen und -juristen Mut beweisen und Gelegenheiten für einen beruflichen Perspektivwechsel beim Schopfe greifen. Manchmal kommen diese Chancen ganz unverhofft. Gerade dann ist es wichtig, sich etwas zu trauen – und zuzutrauen.  Ich habe auf meinem Karriereweg gelernt, dass dieser Mut belohnt wird. Wenn die Frage nach einer neuen Herausforderung kommt, muss man „Ja“ sagen.  

„Die Frauen möchte ich ermutigen, wachsam und kämpferisch zu sein und sich nicht in alte Rollenmuster drängen zu lassen.“

Wenn Sie auf ambitionierte junge Jurist*innen in Studium, Referendariat oder bzw. beim  wissenschaftlichen Nachwuchs treffen: Was raten Sie denen, wie sie ihre verschiedenen Lebenspläne miteinander in Einklang bringen können? 

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist mir sehr wichtig. Ich spreche da als Mutter von drei Söhnen, also aus eigener – teilweise leidvoller – Erfahrung. Gerade zu Beginn des Berufslebens ist der Spagat zwischen Büro und Familie für junge Eltern schwierig zu meistern. Ich sage  bewusst „Eltern“, aber leider betrifft das auch heute noch viel zu häufig allein die Mütter. Da wünscht man sich, dass der Tag 48 Stunden hätte. 

Was rate ich den jungen Leuten? Die Frauen möchte ich ermutigen, wachsam und kämpferisch zu sein und sich nicht in alte Rollenmuster drängen zu lassen. Das geht nach der Geburt häufig schleichend und unbemerkt – und plötzlich hat man eine ganz klassische Aufteilung: Er macht Karriere, sie bleibt zuhause und verdient irgendwann in Teilzeit ein bisschen „dazu“. Die Väter rufe ich dazu auf, ihre Verantwortung genauso zu akzeptieren und zu realisieren, wie das Mütter seit jeher getan haben. Wenn Väter genauso bereit sind wie Mütter, vorübergehend auch mal berufliche Einschnitte in Kauf zu nehmen (denn der Tag hat nun mal keine  48 Stunden), dann führen wir einen fairen Vereinbarkeitsdiskurs. Natürlich müssen sich auch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber angesprochen fühlen; proaktives Vereinbarkeitsmanagement sollte heutzutage eine Selbstverständlichkeit sein. Mein Haus lässt sich hierzu regelmäßig zertifizieren und unterstützt die Mitarbeiter*innen auf vielfältige Art und Weise, zum Beispiel bei der Suche nach einem Kita-Platz. 

An welchen Stellen haben Sie selbst juristische Auszubildende im Ministerium und wo kann man sich um entsprechende Positionen bewerben? 

Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare können im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes ihre dreimonatige Ausbildungsstation bei uns absolvieren. Das ist in allen Abteilungen des Hauses möglich. 

Zudem bieten wir in begrenztem Umfang besonders qualifizierten Studentinnen und Studenten der Rechtswissenschaften die Möglichkeit, die Arbeit unseres Ministeriums im Rahmen eines Praktikums kennen zu lernen. Informationen zum Bewerbungsverfahren und zur Organisation des Ministeriums finden sich auf unserer Homepage.  

„Wir dürfen nicht die soziale Rolle eines Gerichts, besetzt mit „echten“ Menschen aus Fleisch und Blut, vergessen.“

Wenn wir nun zu all denjenigen zurückkehren, die in den klassischen juristischen Berufen arbeiten: Wie beurteilen Sie deren Handlungsspielräume als engagierte Bürger? Könnten bzw. sollten sie sich auch im Rahmen ihrer Tätigkeit als politische Menschen verstehen oder halten Sie eine solche Vermischung für problematisch? 

Seit Aristoteles wissen wir, dass jeder Mensch ein politisches Wesen ist. Und bis heute hat diese Aussage nichts an Wahrheit verloren, ich würde sogar sagen: Sie ist heute aktueller denn je. Unser Rechtsstaat scheint manchmal erosionsbedroht, sieht sich jedenfalls akuten Gefahren  ausgesetzt. Rechtsextremistische Gewalttaten wie der Terroranschlag von Halle oder der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sind die traurige Spitze des Eisbergs in einem Meer von Hass und Gewalt. Da kann man sich nicht zurücklehnen und sagen „Ich bin ja nur Juristin, lass die Politik mal die anderen machen“. Wir alle müssen uns verantwortlich fühlen – und häufig kann man selbst viel mehr bewegen, als man zunächst denkt. 

Gerade als Juristinnen und Juristen müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen, dass der demokratische Rechtsstaat, in dem wir leben, keine Selbstverständlichkeit ist. Der Blick zurück in unsere Geschichte lehrt uns, wie eng Licht und Schatten beieinanderliegen. Und wie dünn – um es mit den Worten des großen Juristen Fritz Bauers zu sagen – „der Firnis der Zivilisation war und ist“. Deswegen klares „Ja“ auf Ihre Frage. Auch – und insbesondere – Jurist*innen sollten sich als politische Menschen verstehen.  

Wenn im Ministerium in der Mohrenstraße eines Tages eine gute Fee auftauchte und Ihnen sagte: Zum Thema juristische Nachwuchsförderung haben Sie in einer idealen Welt drei Wünsche frei. Wie sähen die aus? 

Ich habe einen großen Wunsch: Ich wünsche mir, dass unsere Studentinnen und Studenten  zu mutigen, selbstbestimmten und aufrichtigen Juristinnen und Juristen ausgebildet werden. Ich bin mir aber sicher, dass es dafür keiner guten Fee bedarf. Ein Blick in die Hörsäle genügt mir,  um sicher zu sein, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen wird. Außerdem wünsche ich mir, dass  dem Bezirk Mitte von Berlin die überfällige Umbenennung der „Mohrenstraße“ in absehbarer Zeit gelingen wird. Und der dritte Wunsch? Fritz-Bauer-Straße, das gefiele mir gut. 

Das Interview führte: Rechtsanwältin Dr. Anette Schunder Hartung, aHa Strategische Geschäftsentwicklung, Frankfurt am Main

Dieser Beitrag erschien zuerst im JURAcon Jahrbuch 2020

Dr. Margaretha Sudhof, Staatssekretärin im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
Autorin
Dr. Margaretha Sudhof

Dr. Margaretha Sudhof ist seit dem 9. Dezember 2021 Staatssekretärin im Bundesministerium der Verteidigung. Zuvor war sie von 2012 bis 2019 Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Finanzen des Landes Berlin und von Juli 2019 bis Dezember 2021 Staatssekretärin im Bundesjustizministerium. Frau Dr. Sudhof absolvierte ihre juristische Ausbildung in Mannheim und Frankfurt am Main und begann ihre Karriere als Richterin am dortigen Verwaltungsgericht.