Der Hängebeschluss und das Bundesverfassungsgericht

Bundespräsident Steinmeier darf das Gesetz über das EU-Corona-Konjunkturprogramm vorerst nicht unterzeichnen. Auf welcher Grundlage erging der Beschluss des BVerfG?

Das Bundesverfassungsgericht untersagte dem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier, das Zustimmungsgesetz zum Corona-Aufbaufonds zu unterzeichnen (BVerfG v. 26.03.2021 –  2 BvR 547/21).

Ein wahrlich seltener Vorgang und unabhängig von den politischen Kommentaren stellt sich dabei die Frage, warum das BVerfG das überhaupt konnte. Auf welcher Grundlage erging der Beschluss und was kann dazu im Staatsexamen gefragt werden?

Seltener Vorgang: Bundespräsident Steinmeier darf das Gesetz über das EU-Corona-Konjunkturprogramm nach Entscheidung des BVerG vorerst nicht unterzeichnen.

Sachlicher Hintergrund des Beschlusses

Der sogenannte Corona-Aufbaufond soll der EU ermögliche, nach der Corona-Pandemie wieder wirtschaftlich „auf die Beine zu kommen“. Insgesamt wurde auf europäischer Ebene ein Paket in Höhe der Rekordsumme von 1,8 Billionen Euro beschlossen. 750 Milliarden sollen dabei über Zuschüsse und Darlehen finanziert werden und die EU-Kommission darf Schulden aufnehmen, für die die Mitgliedstaaten garantieren. So gesehen nehmen erstmals in der Geschichte die Staaten der EU gemeinsame Schulden auf.

Während Kritiker und Befürworter einer Fiskalunion den Einstieg in eben jene sehen, sehen andere dies als eng begrenztes Ausnahmeinstrument, welches der Eindämmung der Schäden der Pandemie gilt. Eine große Mehrheit im Bundestag und auch der Bundesrat stimmten dem Gesetz, das die EU-Beschlüsse auf nationaler Ebene umsetzt, zu. Eine Gruppe von Personen hat dagegen in Karlsruhe im Eilverfahren geklagt. Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr in einem sogenannten Hängebeschluss dem Bundespräsidenten untersagt das Gesetz zu unterzeichnen und auszufertigen.

Der Beschluss als Ausgangspunkt für eine Vielzahl spannender (Prüfungs-)Fragen

Alleine der bloße Beschluss ohne Begründung (diese sollte bei Schreiben des Beitrags noch vom Bundesverfassungsgericht nachgereicht werden) bietet einem Prüfer vielfältige Fragemöglichkeiten im mündlichen Examen, lädt aber auch zu einer dritten, vierten oder fünften Frage in einer schriftlichen Prüfung und im Examen ein. 

1. Der Hängebeschluss

Was ist ein Hängebeschluss und wann kommt er in Frage?

Zunächst kann danach gefragt werden, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt einen solchen Beschluss fassen durfte und wo sich die rechtliche Grundlage für ihn findet. Es handelt sich vorliegend um einen sogenannten „Hängebeschluss“.

Ein Hängebeschluss bezeichnet eine Zwischenregelung, welche noch vor einer Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz ergeht. Normalerweise dient ja bereits der vorläufige Rechtsschutz der Beschleunigung des Verfahrens und der vorläufigen Regelung eines Zustandes nach summarischer Prüfung.

Ein Hängebeschluss kommt immer dann infrage, wenn das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu lange dauern und ein Nichttätigwerden zu irreversiblen Schäden des Antragsstellers führen könnte. Vor Abschluss des Eilverfahrens kann daher bereits ein Beschluss erlassen werden, der den Zustand vorläufig regelt.

Rechtsgrundlage hierfür ist einmal Art. 19 Abs. 4 GG, im Falle des Bundesverfassungsgerichts ist der Hängebeschluss einfachgesetzlich in § 32 BVerfGG verankert, bei den Regelungen zum einstweiligen Rechtsschutz.

Für die Prüfer in einer mündlichen Prüfung bietet sich die Frage an, ob man noch weitere einfach-gesetzliche Regelungen eines Hängebeschlusses kennt. Ein einfaches Beispiel ist § 123 VwGO, eine einfachgesetzliche Regelung im Verwaltungsverfahren, in deren Rahmen ebenfalls ein Hängebeschluss erfolgen kann.

Umgekehrt kann ein Prüfer natürlich auch fragen, welche Möglichkeiten es für das Bundesverfassungsgericht gibt, die Unterzeichnung eines Gesetzes durch den Bundespräsidenten zu verhindern und wann dies der Fall sein kann. Dann ist gerade auf den § 32 BVerfGG und den auch in ihm verankerten Hängebeschluss zu verweisen.

Es ist doch sehr ungewöhnlich und – so viel sei an dieser Stelle bereit verraten – ein sehr seltener Ausnahmefall, dass das Bundesverfassungsgericht die Unterzeichnung und Verkündung eines von Bundestag und Bundesrat beschlossenen Gesetzes verhindert.

2. Sonderfall eines Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag

Grundsätzlich gilt bei der Prüfung von Gesetzen:

Sowohl bei der abstrakten Normenkontrolle als auch bei der Verfassungsbeschwerde, eine solche war Gegenstand des vorliegenden Beschlusses, kann nur ein bereits verkündetes Gesetz Gegenstand der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht sein. 

Es gibt allerdings eine grundsätzliche Ausnahme. Dies sind Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen. Die an dieser Stelle stark vereinfachte Erklärung hierfür ist, dass diese Zustimmungsgesetze, auch wenn sie verfassungswidrig sind, völkerrechtlich nicht einfach aufgrund der Verfassungswidrigkeit aus der Welt zu schaffen sind.

Das Völkerrecht wertet nicht danach, ob im Nachgang an einen Ratifizierungsprozess ein Verfassungsgericht eines Vertragsstaates zu dem Schluss kommt, dass der Vertrag verfassungswidrig war, sondern rein nach den Maßstäben des Völkerrechts.

Das Völkerrecht wertet nicht danach, ob im Nachgang an einen Ratifizierungsprozess ein Verfassungsgericht eines Vertragsstaates zu dem Schluss kommt, dass der Vertrag verfassungswidrig war, sondern rein nach den Maßstäben des Völkerrechts. Dort zählt nur der ratifizierte Vertrag, der bei den jeweiligen Stellen hinterlegt ist. Um diesen wieder rückabzuwickeln und ggf. eine neue Vereinbarung zu treffen, bedarf es eines neuen Abkommens. Ein solches zu erzielen, wird aber in der Regel kaum möglich sein, da auch der andere Staat bzw. die anderen Staaten verhandlungsbereit sein müssen. Unter diesen Voraussetzungen wäre aber ein effektiver Rechtsschutz bezüglich völkerrechtlicher Verträge nicht gegeben, wenn diese nicht „vorab“ überprüft werden könnten.

Gleiches gilt daher für Zustimmungsgesetze im Rahmen der EU, also auch bzgl. des Zustimmungsgesetzes zum Corona-Aufbaufond. Aus diesem Grund konnte das Bundesverfassungsgericht bereits im Eilverfahren tätig werden und mit dem Hängebeschluss die Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten verhindern.

Ein ungewöhnlicher Vorgang, da diese Fälle normalerweise anders ablaufen. Vieles in Bezug auf völkerrechtliche Verträge ist nämlich im Grundgesetz gar nicht so eindeutig geregelt wie man denken mag, denn vieles ist durch besondere Abkommen bzw. „Gentleman Agreements“ geregelt.

3. Besonderheiten bei der völkerrechtlichen Vertretung

Gängiges Prozedere ist es, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundespräsidenten in solchen Fällen informell darum bittet, ein Zustimmungsgesetz bis zu einer Entscheidung nicht zu unterzeichnen und der Bundespräsident dieser Bitte nachkommt. Dies war häufiger schon der Fall, das prominenteste Beispiel für ein solches Vorgehen war zuletzt die Schaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM).

Warum diesmal das Prozedere anders ist, ist nicht ersichtlich. Vielleicht liegt es am politischen Druck in Europa, dass eine Hängepartie in Deutschland bezüglich des Corona-Aufbaufonds gerade nicht möchte. Schließlich sollen die Gelder möglichst schnell fließen. Indem das Bundespräsidentenamt auf den Hängebeschluss verweisen kann, liegt der Druck nicht mehr in Berlin, sondern auf der Entscheidung aus Karlsruhe. Ob diese Gedanken tatsächlich der Hintergrund für den Hängebeschluss waren oder nicht, ist Spekulation, mag aber eine mögliche Erklärung sein. 

In dem Zusammenhang mit dem Völkerrecht mag ein Prüfer aber noch weitere Rollen des Bundespräsidenten erfragen, insbesondere im Hinblick auf die Vertretung der Bundesrepublik mag man davon ausgehen, dass die Prüfer eine solche Brücke schlagen. 

Bzgl. der Vertretung nach außen ist Art. 59 Abs. 1 GG zu beachten:

„Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten.“

Dies bedeutet, dass völkerrechtlich alleine der Bundespräsident handelt. Er ist zuständig für alle völkerrechtlichen einseitigen Handlungen, wie z. B. die Kündigung von Verträgen und die Anerkennung fremder Staaten. Zu unterzeichnen ist davon die Außenpolitik, die hauptsächlich von der Bundesregierung geführt wird.

Dennoch mag es vorkommen, dass z. B. die Bundesregierung erklärt, dass ein fremder Staat anerkannt wird. Dies erfolgt dann aber durch Ermächtigung des Bundespräsidenten. Hierbei muss man aber aufpassen: Gewohnheitsrechtlich ist eine solche Ermächtigung nicht gegeben – diese muss ausdrücklich erfolgen.

Die nächste Frage, die ein Prüfer stellen mag, kann dann noch weitergehen. Wer hat eigentlich die Kompetenz für die völkerrechtliche Vertretung der Bundesrepublik? Sogleich wird die Diskussion üblicherweise auf den Fall gelenkt, dass völkerrechtliche Verträge Gesetzgebungskompetenzen der Länder berühren und die Umsetzung durch die Länder erfolgen muss.

Hier gibt es die Mindermeinung, dass nach Art. 32 Abs. 3 GG dann nur die Bundesländer die Kompetenz haben sollen, in diesen Bereichen völkerrechtliche Verträge abzuschließen und selbst wenn der Bund einen Vertrag abschließt, es noch eines „Umsetzungsaktes“ durch die einzelnen Länder bedarf.

Es ist wohl kaum verwunderlich, dass ein solches Vorgehen allein praktisch nicht funktionieren kann. Um den Streit zu lösen, wurde daher bereits im Jahre 1957 das sog. „Lindauer Abkommen“ geschlossen. Demnach hat der Bund von den Ländern eine umfassende Vertragsabschlusskompetenz bei völkerrechtlichen Verträgen erhalten.

Zwar gibt es Stimmen, die die Verfassungsmäßigkeit des Lindauer Abkommens anzweifeln, allerdings stellt das Lindauer die gelebte Staatspraxis dar. Das Stichwort Lindauer Abkommen muss dabei zum Standardrepertoire eines jeden Examenskandidaten gehören.

Vor allem im mündlichen Examen bietet der Hängebeschluss also schöne Möglichkeiten für die Prüfer eine kleine „Reise“ durch das Staatsrecht zu unternehmen. Denkbar sind natürlich auch europarechtliche Fragestellungen, wobei Ausführungen hierzu den Rahmen des Beitrags sprengen würden. Genannt sei aber, dass man insbesondere an die Entscheidungen Solange I und II, das Maastricht-Urteil und den Bananenmarktbeschluss denken.

4. Die Begründetheit des Hängebeschlusses

Ob es Besonderheiten bei der Begründetheit des Hängebeschlusses gibt, ist bisher nicht ersichtlich, da diese, wie gesagt, noch veröffentlicht wird. Es zeigt sich jedoch die extreme Eilbedürftigkeit, wenn das Bundesverfassungsgericht erst den Beschluss verkündet und erst später die Begründetheit nachreicht. Was der Beschluss allerdings nicht zeigt, ist, ob das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde ganz oder in Teilen als begründet ansieht.

Einige Kommentatoren haben schon verkündet, die Formulierung des Hängebeschlusses würde zeigen, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde ernst nähme. Solche Aussagen sind in vielerlei Hinsicht Unsinn.

Das Bundesverfassungsgericht nimmt jedes Verfahren ernst, sei es auf den ersten Blick auch noch so unsinnig. Ich hatte in meinen ersten beiden Semestern an der Universität Heidelberg im Staatsrecht den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof als Dozenten. In einer Vorlesung erzählte er, dass es wohl einen Mitbürger gab, der eine sehr hohe zweistellige Zahl an Verfassungsbeschwerden eingereicht hatte, die alle entweder offensichtlich unzulässig und/oder unbegründet waren.

Als eines Tages wieder mal eine Verfassungsbeschwerde durch diese Person eingereicht wurde, hörte er durch Zufall zwei Mitarbeiter darüber reden, dass ja „schon wieder dieser Mensch eine Verfassungsbeschwerde eingereicht hätte, obwohl er doch die mehreren Dutzend Mal davor auch nie nur ansatzweise Recht gehabt habe“. Professor Kirchhof sei dann dazwischengetreten und habe gesagt, „dass jede Verfassungsbeschwerde gleichbehandelt und gleich ernst genommen wird, egal von wem sie kommt. Es wird entschieden im Sinne des Rechts, nicht in Ansicht der Person.“ Tatsächlich sei die Verfassungsbeschwerde dann sogar erfolgreich gewesen. 

Ich weiß nicht, ob diese Anekdote wahr ist oder nur die Arbeitshaltung des Bundesverfassungsgerichts veranschaulichen sollte. Aber sie zeigt etwas Wichtiges auf: Jedes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wird ernst genommen, egal ob von Anfang an offensichtlich unbegründet oder nicht.

Im vorliegenden Fall des Corona-Aufbaufonds ging es aber auch gar nicht darum, ob die Verfassungsbeschwerde als ernst, im Sinne von inhaltlich womöglich begründet, angesehen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat nur auf die Gefahr reagiert, dass bei einer Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten die Zustimmung, sollte sie womöglich verfassungswidrig erfolgt sein, nicht mehr „rückabgewickelt“ werden kann.

Ein Wertungsurteil, ob die Ansicht der Beschwerdeführer begründet oder unbegründet ist, ist damit nicht verbunden. Dies kann bei einem so komplexen Konstrukt wie dem Corona-Aufbaufond auch nicht innerhalb weniger Stunden oder Tage geprüft werden, sondern unterliegt vielmehr dann einer sehr ausführlichen und gründlichen Untersuchung durch das Bundesverfassungsgericht.

Wie einige politische Kommentatoren hieraus Wertungstendenzen lesen zu wollen, wäre grob fahrlässig und kann eine gefährliche Fangfrage in der mündlichen Prüfung darstellen. Daher muss man an dieser Stelle sehr vorsichtig auch bei den Antworten auf mögliche Fragen der Prüfer sein.

Fazit

Zum Abschluss noch eine Beruhigung für die Prüfung: Schon das Bundesverfassungsgericht kann nicht innerhalb weniger Stunden den Corona-Aufbaufond prüfen und verfassungsrechtlich beurteilen, genauso wenig kann dies von Prüflingen bzw. bei juristischen Prüfungsthemen verlangt werden. Daher ist es äußerst unwahrscheinlich, dass man mit diesem direkt in der Prüfung konfrontiert wird.

Man sollte aber wissen, was die Besonderheit des Hängebeschlusses ist und auf Folgefragen gefasst sein, die sich daraus in einer Prüfung ergeben können. Ich wünsche viel Glück und Erfolg in den Prüfungen!

Dr. Michael Hoerdt
Autor
Dr. Michael Hördt

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Er war Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. im Arbeitsrecht und für das Irlandgeschäft der Kanzlei zuständig. Aktuell ist er Syndikusrechtsanwalt bei Infosys Limited im Arbeitsrecht in Frankfurt a.M.

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