Wahlrechtsreform: Neues Wahlrecht vor dem BVerfG – Antrag auf einstweilige Anordnung

Das neue Wahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht – der Antrag auf einstweilige Anordnung – Eine Entscheidung im Eilverfahren, die höchste Relevanz sowohl in der Praxis als auch für das juristische Studium hat.

Dringlich und prüfungsrelevant: Das BVerfG und sein jüngster Beschluss zum neuen Wahlrecht

Anträge auf einstweilige Anordnungen vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) werden zumindest gefühlt immer häufiger. Vor allem betreffen sie in jüngster Zeit immer wieder examensrelevante Themen.

Nun kam wieder eine solche Entscheidung im Eilverfahren zustande, die höchste Relevanz sowohl in der Praxis als auch für das juristische Studium hat: der Beschluss zum Eilantrag hinsichtlich des neuen Wahlrechts (BVerfG v. 20. Juli 2021 – 2 BvF 1/21).

Wahlen sind der Kern einer Demokratie

Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Staat – das legt Art. 20 I des Grundgesetzes (GG) fest. Hinzu kommt eine typische Eigenheit für die repräsentative Demokratie: Bis auf die im GG genannten Ausnahmen gibt es in Deutschland keine Plebiszite, also Volksabstimmungen.

Mit der personalisierten Verhältniswahl hat die Bundesrepublik Deutschland ein recht kompliziertes Wahlsystem. Problematisch sind hierbei die sogenannten Überhangmandate. Statt 598 Abgeordnete – wie es eigentlich im Bundeswahlgesetz vorgesehen ist – sind es aktuell 709

Das Volk kann daher nur über die Wahlen direkt seine Macht ausüben. Ihnen kommt dadurch eine überragende Bedeutung für die Verwirklichung des Demokratieprinzips zu. Doch das Wahlrecht ist auch sehr gefährdet, wie man an der weltweiten Entwicklung sehen kann.

Was kann freie Wahlen gefährden?

Wahlen sind immer wieder das Ziel von Angriffen – und das nicht nur von außen. Manipulationen, Einschränkungen von Wahllisten, das Zurechtschneiden von Wahlkreisen sind nur einige Mittel, um Abstimmungen einzuschränken und an der Macht zu bleiben. Auch in den USA, der ältesten durchgängigen Demokratie, sieht man derzeit Probleme. So wollen die Republikaner in Texas Wahlreformen durchführen, die darauf abzielen, Minderheiten vom Wählen abzuhalten.

Für die Partei, die ursprünglich Präsidenten wie Abraham Lincoln und Ulysses S Grant hervorgebracht hat – die sich nicht nur für die Abschaffung der Sklaverei, sondern auch für die Möglichkeit der Wahl für die afroamerikanische Minderheit eingesetzt haben – mag dies eine Schande sein. Aber da das „gerrymandering“ (das Zurechtschneiden der Wahlkreise) schwerer wird, gehen sie nun diesen Weg. Es wird spannend, ob die Demokraten mit ihrer „Flucht“ aus Texas zur Verhinderung der Abstimmung, durchkommen werden.

Ein weiteres Problem ist das Wahlmännersystem, bei dem sich zeigt, das der Wählerwille nicht korrekt widergespiegelt wird. War es bei früheren Wahlen noch die Regel, dass derjenige, der die meisten Stimmen hatte, auch die meisten Wahlmänner bekam, dreht sich dieses Prinzip immer weiter.

So wurde beispielsweise Donald Trump im Jahr 2016 Präsident, obwohl er rund zwei Millionen weniger Stimmen als seine Gegenkandidatin Hillary Clinton hatte. Und auch Joe Biden benötigte bei der Wahl im vergangenen Jahr im Verhältnis deutlich mehr Stimmen als Trump, um die Wahl zu gewinnen.

Wie ist die Situation in Deutschland?

Doch auch in Deutschland wird derzeit über das Thema Wahlen – und vor allem um die jüngsten Reformen – viel diskutiert. Dabei geht es neben dem Grundsatz der Normklarheit auch um die Wahlrechtsgleichheit sowie die Chancengleichheit der Parteien. Ähnlich wie in den USA stellt sich nämlich die Frage, ob bei den jüngsten Reformen die genannten Grundsätze in Deutschland eingehalten werden und alle Stimmen gleich viel Wert sind. Der oben genannte Beschluss des BVerfG zeigt die Problematik deutlich auf.

Warum ist ein „neues“ Wahlrecht notwendig?

Mit der personalisierten Verhältniswahl hat die Bundesrepublik Deutschland ein durchaus kompliziertes Wahlsystem. Problematisch sind hierbei die sogenannten Überhangmandate. Eine Partei erhält bei einem solchen Überhangmandat mehr Erststimmen (für eine Person), als sie Zweitstimmen (für die Partei) erhält. Denn die Zweitstimme wird mit den Erststimmen verrechnet. Das bedeutet: Stehen einer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis beispielsweise 20 Sitze im Bundestag zu, obwohl sie nur 18 Direktmandate erhalten hat, dann werden die restlichen 2 Mandate von Kandidaten der Landesliste wahrgenommen, die nicht direkt gewählt wurden.

Bei mehr Direktmandanten als Zweitstimmen, gibt es dagegen einen „Überhang“. Lange Zeit nahmen die Abgeordneten ihr Überhangmandat wahr, ohne dass es zu einem Ausgleich gekommen wäre. Doch die Praxis wurde vom Bundesverfassungsgericht für unwirksam erklärt (BVerfG v. 03.07.2008 – 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07), da sie auch einen kuriosen Effekt haben konnte – indem weniger Stimmen für eine Partei mehr Sitze für diese bedeutete (sog. negatives Stimmgewicht). Dies ist offensichtlich ein Verstoß gegen die Chancengleichheit.

Es kam zu einer Reform durch die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung, die allerdings ebenfalls in Karlsruhe scheiterte (BVerfG v. 25. Juli 2012 – 2 BvE 9/11). Daraufhin einigten sich die Parteien auf Ausgleichsmandate. Überhangmandate müssen dabei durch weitere Mandate ausgeglichen werden.

Warum wird der Bundestag immer größer?

Ein Nebeneffekt ist allerdings, dass der Bundestag dadurch immer weiter anwächst. Statt 598 Abgeordnete – wie es eigentlich im Bundeswahlgesetz vorgesehen ist – sind es aktuell 709. Manche Prognosen gehen davon aus, dass der Bundestag bei der kommenden Wahl über 800 Mitglieder erfassen könnte. Dies macht die Arbeit im Parlament naturgemäß nicht einfacher, da viele Abläufe verlangsamt werden. Deutschland hat aber bereits mit den gesetzlich vorgesehenen 598 Abgeordneten eines der größten Parlamente der Welt.

Um dieses Problem anzugehen, gab es parteiübergreifende Versuche, das Wahlrecht für die zukünftige Bundestagswahl (denn nur für diese kann ein Wahlgesetz geändert werden) zu ändern. Nachdem diese Bemühungen jedoch im Sand verlaufen sind, haben sich die Regierungsparteien eine Reform vorgenommen – die aber einige verfassungsrechtliche Bedenken aufgeworfen hat.

Was man im Studium über den Beschluss wissen muss

Bevor man sich zu sehr sorgt: Alte Entscheidungen, insbesondere die zum negativen Stimmgewicht, erfordern auch umfangreiche Rechenarbeiten. Dies wird bei dem Eilantrag nicht benötigt – und könnte in einer Prüfung auch nicht verlangt werden. Was allerdings abgefragt werden kann, sind die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 I S.1 GG), die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 I S. 1 GG) und der Grundsatz der Normklarheit.

Was wird durch die Wahlrechtsreform verändert?

Angegriffen wurden vor dem BVerfG die neu geschaffenen Vorschriften des § 6 Abs. 5 und 6 BWahlG. Diese sehen unter anderem vor, dass bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Doch das BVerfG äußert ernste Zweifel, ob dies mit dem Grundsatz der Normgleichheit vereinbar ist. Der Grundsatz, der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt, verlangt, dass Vorschriften so bestimmt zu fassen sind, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. Gerade bei Wahlen als überragender Ausdruck des Demokratieprinzips ist eine klare Fassung notwendig.

Die Formulierung im Wahlgesetz stellt aber bereits nicht eindeutig klar, auf was sich die drei Mandate beziehen, die unberücksichtigt bleiben sollen. Gilt dies beispielsweise pro Bundesland oder pro Partei? Hier hat der Gesetzgeber keine gute Arbeit geleistet und es ist verwunderlich, dass keine klaren Formulierungen verwendet wurden, insbesondere, da diese Grundsätze auch dem Gesetzgeber schon lange bekannt sein sollten.

Wo liegen die größten Probleme der Wahlrechtsreform?

Dass alle Stimmen gleich gewertet (Wahlrechtsgleichheit) und die Parteien die gleichen Chancen haben müssen, sind wie geschildert klare Wahlrechtsgrundsätze. Wenn aber eine Partei nun mehr Erststimmen und damit Direktmandate hat, erfolgt zu einem gewissen Teil kein Ausgleich. Die Stimmen wären also unterschiedlich wertig und damit auch die Chancengleichheit der Parteien gefährdet.

Ob die Stärkung des personellen Elementes eine Durchbrechung dieser Grundsätze rechtfertigen kann, stellt das BVerfG ausdrücklich in Frage. Als mögliche Rechtfertigung sieht es noch die Funktionsfähigkeit des Bundestages an, lässt diesen Punkt aber auch offen. In der Prüfung wird man an dieser Stelle sicherlich mehr Ausführungen zu den Prinzipien machen müssen.

Im Ergebnis war der Antrag auf einstweilige Anordnung nicht erfolgreich. In der summarischen Prüfung hatte das BVerfG zwar durchaus Bedenken, die dafür sorgen können, dass sich das Ergebnis im Hauptsachverfahren der abstrakten Normenkontrolle dreht.

Doch eines sah das BVerfG jedoch als problematisch an: Wenn das Gesetz verfassungsgemäß und der Antrag erfolgreich gewesen wäre, dann würde praktisch ein verfassungsmäßiges Gesetz nicht angewendet werden.

Dazu könnte es zu einer Sitzverteilung kommen, die einer Partei mehr Sitze zusprechen würde als sie tatsächlich Stimmen erhalten hat. Und dies könnte zu einer Veränderung der Mehrheiten im Parlament führen. Umgekehrt würden Mandate eventuell erteilt, die nach dem neuen Recht nicht erteilt werden könnten und auch die Mehrheiten verändert werden. Überwiegende Gründe für einen erfolgreichen Antrag auf einstweilige Anordnung sah das BVerfG aber nicht, da die Folgen in etwa gleich (schlecht) sind.

In der Prüfung sollte man die betreffenden Grundsätze kennen und auch benennen können. Hierbei kommt es stark auf eine Abwägung an. Insbesondere in der mündlichen Prüfung genügt dann auch das „runterrattern“ der Entscheidung des BVerfG nicht. Man muss die verschiedenen Argumente kritisch würdigen und abwägen und in der Folge seine Ansicht begründen. Gleiches gilt auch für eine Haus- oder Seminararbeit, wobei hier die Grundsätze vertieft dargestellt werden müssen.

Die Möglichkeit Wahlen anzufechten

Ein letzter Punkt, der in der Prüfung gefragt werden kann, ist derjenige nach der Möglichkeit, Wahlen anzufechten. Hier ist Art. 41 II i.V.m. 93 I Nr.5 GG, §§ 13 Nr.3, 48 BVerfGG – die Wahlprüfungsbeschwerde – zu nennen. In der gegebenen Situation ist nicht ausgeschlossen, dass diese auch nach der Wahl am 26. September erhoben wird. Sie wird vom Schema der Zulässigkeit ähnlich einer abstrakten Normenkontrolle geprüft und sollte daher an diesem Punkt keine Schwierigkeiten bereiten. In der Begründetheit sind mehrere Punkte zu beachten:

  1. Formelle Fehler des Wahlprüfungsverfahrens (ist das WahlPrG bei der Prüfung der Wahl durch den Bundestag beachtet worden?
  2. Wahlfehler mit Mandatsrelevanz
  3. Materieller Wahlfehler (Verstoß gegen Art. 38 I GG oder einfaches Wahlrecht)
  4. Mandatsrelevanz
  5. Rechtsfolge (bei Fehlern mit Mandatsrelevanz Unwirksamkeit der Wahl; ansonsten Feststellung des Verstoßes).

Mir selbst ist die Wahlprüfungsbeschwerde in einem (Original-) Probeexamen bereits begegnet, so dass klar sein muss, dass auch die Prüfungsämter diese abfragen. Wie man am Schema sieht, stellt dies aber keine unlösbare Aufgabe dar. Wichtig ist aber: Die abstrakte Normenkontrolle als Verfahren ist immer noch neben der Wahlprüfungsbeschwerde möglich! Ein Verfahren schließt nicht das andere aus.

Die Entscheidung und ihre Folgen

Spannend ist nun die Frage, wie es mit der Reform in Deutschland weitergeht. Die Parteien wollen zwar für die Wahl 2025 das Verfahren ändern. Aber was geschieht, wenn der Normenkontrollantrag in der Hauptsache erfolgreich ist? Wird die Wahl als ungültig erklärt und es kommt zu Neuwahlen auf Grundlage des alten Gesetzes? Genügt es, die Ausgleichsmandate nachwirkend an die Parteien zu verteilen? Oder wird die Funktionsfähigkeit des Parlamentes als so wichtig angesehen, dass das Gesetz erhalten bleibt?

Das BVerfG hat eine außerordentlich große Verantwortung bei dieser Entscheidung zu tragen. Die Integrität von Wahlen ist von überragender Bedeutung für die Demokratie und das Vertrauen der Bürger in diese. In Zeiten, in denen die Demokratie von vielen Seiten unter Beschuss steht, kommt der Legitimation von Wahlen eine noch essentiellere Funktion zu. Man kann nur hoffen, dass das BVerfG eine klare Entscheidung trifft, die in Ergebnis und Begründung nicht angreifbar ist.

Dr. Michael Hoerdt
Autor
Dr. Michael Hördt

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Er war Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. im Arbeitsrecht und für das Irlandgeschäft der Kanzlei zuständig. Aktuell ist er Syndikusrechtsanwalt bei Infosys Limited im Arbeitsrecht in Frankfurt a.M.

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