Der Ukraine-Krieg, Verschwörungstheorien und das Völkerrecht

Russland hat mit dem Überfall auf die Ukraine gegen alle Regeln des Völkerrechts und gegen die Regeln der Menschlichkeit verstoßen. Eine völkerrechtliche Einordnung und ein Blick auf Verschwörungstheorien.

Acht Verschwörungstheorien zum Ukraine-Krieg und wie man sie entkräften kann

In der Nacht vom 24. Februar passierte das Undenkbare in Europa. Mit dem völkerrechtswidrigen und durch nichts zu rechtfertigenden Überfall Russlands auf die Ukraine ist erstmals seit dem zweiten Weltkrieg der Schrecken des Krieges im europäischen Bewusstsein angekommen, nachdem der europäische Kontinent eine lange Periode des Friedens, mit Ausnahme der militärischen Handlungen auf dem Balkan in den Neunzigern, erlebt hat.

Die Zivilbevölkerung in der Ukraine leidet, Flüchtlingsströme ziehen gen Westen, Väter verabschieden sich an der Grenze von Frau und Kindern; vielleicht zum letzten Mal. Sie werden eingezogen, um die ukrainische Heimat zu verteidigen. Wladimir Putin und sein Regime im Kreml werfen derweil die Propagandamaschinerie an und versuchen, mithilfe von unwahren Behauptungen den Mythos einer Provokation des Westens, insbesondere der NATO, zu etablieren und mit diesen Lügen den Krieg zu rechtfertigen.

Mit dem völkerrechtswidrigen und durch nichts zu rechtfertigenden Überfall Russlands auf die Ukraine ist erstmals seit dem zweiten Weltkrieg der Schrecken des Krieges im europäischen Bewusstsein angekommen.

Willige Multiplikatoren für die Sache Putins finden sich leider auch in den sozialen Netzwerken. Auch wenn die große Masse in Europa glücklicherweise nicht auf dieses perfide Spiel des Kremls reinfällt und durch großes Engagement zeigt, dass man solidarisch mit der Ukraine ist, gibt es leider immer noch Leute, die auf die Propaganda hereinfallen.

Der folgende Beitrag soll einige dieser Mythen auch rechtlich entlarven und Argumente gegen die Behauptungen der Verschwörungstheoretiker und Putinfreunde liefern. Dabei nehme ich einige der falschen Thesen auf, die ich entweder vom russischen Regime direkt in den Medien gesehen habe oder von Putinverstehern in sozialen Netzwerken gelesen habe.

Verschwörungstheorie Nr. 1:
Russland hat bestimmte Einflusssphären, über die sich der Westen hinweggesetzt hat

Ein Narrativ, das immer wieder aufgegriffen wird, ist dass Russland bestimmte Einflusssphären habe, über die sich der Westen hinweggesetzt hätte.

Zunächst ist die Frage, was man unter Einflusssphären versteht. Die gängige Definition ist in der Geopolitik eine Bezeichnung für diejenigen fremden Gebiete, Länder oder Kontinente, in denen ein Staat politische, wirtschaftliche, soziale oder sonstige Interessen besitzt oder geltend machen möchte. Gleichbedeutend ist der Begriff der Interessensphäre. An der Definition aus der Geopolitik zeigt sich bereits das Dilemma für die Behauptung des russischen Regimes.

Völkerrechtlich gibt es keine juristische Definition oder Zuordnung von Interessensphären. Kein Staat der Welt hat einen völkerrechtlichen oder sonstigen rechtlichen Anspruch auf eine Einflusssphäre oder deren Wahrung. Dies ist ein rein politischer Begriff aus dem sich nichts herleiten lässt. Das Einzige was das Völkerrecht gewährt, ist die Unverletzlichkeit der Grenzen und des Hoheitsgebietes eines Staates, d.h. die territoriale Integrität bzw. Unversehrtheit. Darüber hinaus bestehen keine Garantien. Dies ist ausdrücklich in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta festgehalten:

„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Einflusssphären kennt die UN-Charta gerade nicht, genau wie weitere internationale Verträge, über denen aber die Prinzipien der UN-Charta stehen. Daher kann sich das russische Regime auch nicht darauf berufen, dass diese verletzt worden seien.

Selbst, wenn es solche gäbe, läge mit dem Angriffskrieg, der von Putin angeordnet wurde – selbst Putin und Sergei Lawrow (russischer Außenminister) haben nie einen Gewaltakt gegen russisches Staatsgebiet von ukrainischer Seite, der Selbstverteidigung erlaube, behauptet – ein Verstoß gegen die UN-Charta vor, der nicht zu rechtfertigen ist.
Hierzu sei nur Art. 2 Abs. 3 der UN-Charta genannt:

„Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.“

Selbst wenn sich die russische Führung weigert das Wort „Krieg“ in den Mund zu nehmen und nur von einer „Spezialoperation“ spricht, entspricht dies gerade nicht den“ friedlichen Mitteln zur Beilegung von Streitigkeiten“, die die UN-Charta vorsieht.

Es lässt sich also festhalten: Völkerrechtlich betrachtet gibt es keine Einflusssphären. Dies ist ein rein politischer Begriff, der keine Rechtfertigung für kriegerische Handlungen bietet und daher auch den Einmarsch in die Ukraine nicht rechtfertigen kann.

Auch die häufig zitierte Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975 behauptet in politischer Hinsicht nichts anderes. Die Schlussakte von Helsinki ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern stellt vielmehr eine politische Selbstverpflichtung dar, was u.a. daran erkennbar ist, dass dort keine Kontrollmechanismen festgehalten sind.

Der russische Einmarsch in die Ukraine verstößt aber gerade auch gegen diese politische Willenserklärung, da zu den Grundprinzipen der Schlussakte von Helsinki u.a. der Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt, die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Achtung der territorialen Integrität aller Teilnehmerstaaten und die Achtung der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker gehören. Dies sehen die Teilnehmerstaaten, zu denen alle europäischen Staaten außer Albanien sowie die USA, Kanada und die Sowjetunion und Russland als ihr Nachfolgestaat gehörten auch als Teil ihrer Verpflichtungen aus der UN-Charta, wenn es zu Beginn der Schlussakte heißt:

„Die Teilnehmerstaaten…In Bekundung ihrer einmütigen Zustimmung zu den Prinzipien, die unten aufgeführt sind und die mit der Charta der Vereinten Nationen übereinstimmen, sowie ihres einmütigen Willens, bei der Anwendung dieser Prinzipien in Übereinstimmung mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zu handeln; Erklären ihre Entschlossenheit, die folgenden Prinzipien, die alle von grundlegender Bedeutung sind und ihre gegenseitigen Beziehungen leiten, ein jeder in seinen Beziehungen zu allen anderen Teilnehmerstaaten, ungeachtet ihrer politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systeme, als auch ihrer Größe, geographischen Lage oder ihres wirtschaftlichen Entwicklungsstandes, zu achten und in die Praxis umzusetzen[.]“

Eine Begründung oder gar Rechtfertigung für den Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine lässt sich dadurch nicht herleiten. Dies sind rein machtpolitische Erwägungen, die davon ausgehen, dass das größere, militärisch (häufig auch wirtschaftlich) stärkere Land andere Länder für sich vereinnahmen bzw. diese steuern und beeinflussen kann, bis man auf einen anderen großen Machtblock stößt.

Dies ist aber Politik des 19. bzw. 20 Jahrhunderts. Angemerkt sei als letzter Punkt, dass sogenannte Putinversteher anführen, dass auch andere Länder Einflusssphären definieren würden. Gerne wird dabei die Monroe-Doktrin der USA angeführt. Das ist zwar richtig, aber auch in diesen Fällen wäre ein Angriffskrieg, um eine Einflusssphären zu sichern, ebenso völkerrechtswidrig und die vorgenannten Aussagen gilt für alle Staaten der Welt. Diesen Angriffskrieg der USA gibt es aber nicht, so dass dieses Argument nicht verfängt.

Verschwörungstheorie Nr. 2:
Die NATO-Osterweiterung gefährdet Russland und hätte ohne russische Zustimmung nicht erfolgen dürfen

Ausgehend hiervon kommt man zur zweiten falschen These. Die NATO-Osterweiterung gefährdet Russland und hätte ohne Zustimmung Russlands nicht erfolgen dürfen. Erstmal sei auf die Natur der NATO hingewiesen. Die NATO stellt ein Verteidigungsbündnis dar. Das ergibt sich ganz deutlich aus Art. 5 des Nordatlantikvertrages (der Vertrag dem die NATO zugrunde liegt):

„Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“
„Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.“

An keiner Stelle im Nordatlantikvertrag ist von einer Beistandspflicht bei von einem Mitglied durchgeführten Angriffskrieg die Rede, noch dass die NATO dazu dienen würde, Russland (oder zum Gründungszeitpunkt die UdSSR) zu gefährden. Der Schutz- und Präventions- bzw. Abschreckungsgedanke eines militärischen Angriffs auf ein Mitgliedsland stand und steht auch noch heute im Vordergrund.

Der nächste Punkt ist aber, Russland hätte der NATO-Osterweiterung nicht erfolgreich widersprechen können bzw. die NATO-Osterweiterung ist auch nicht völkerrechtswidrig erfolgt. Es wird zwar immer wieder behauptet, dass die UdSSR bzw. Russland mündlich versichert bekommen hätten, dass die NATO in den Grenzen von 1989 verbleibt. Rechtlich ist dies keine verbindliche Zusage.

Selbst wenn man diese Zusage aber hätte machen wollen, wäre sie völkerrechtlich nicht durchsetzbar gewesen. Dies ergibt sich aus mehreren Gründen. Zunächst sei oben wieder auf die Einflusssphären verwiesen, die es völkerrechtlich nicht gibt. Daher kann gar kein völkerrechtlicher Vertrag mit Russland über seine Einflusssphäre getroffen werden. Darüber hinaus ist im Völkerrecht der „Grundsatz der freien Bündniswahl“ verankert. Dieser wird aus Art. 2 Abs. 1 der UN-Charta hergeleitet:

„Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“.

Übereinstimmend wird hieraus das „Recht der Staaten auf politische Unabhängigkeit nach innen wie nach außen und damit das Recht, ihre außenpolitische Ausrichtung, Orientierung einschließlich der dafür notwendigen politischen Dispositionen ohne Einmischung anderer Staaten zu treffen“ abgeleitet. (vgl. Bardo Fassbender, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Vol. I, 2012, Art. 2 (1), Rn. 58).

Daher war die NATO-Osterweiterung völkerrechtlich ohne weiteres zulässig. Die NATO konnte Russland eventuell politische Zusagen machen, völkerrechtlich war die NATO aber frei. Der Nordatlantikvertrag hält in Art. 7 fest:

„Dieser Vertrag berührt weder die Rechte und Pflichten, welche sich für die Parteien, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind, aus deren Satzung ergeben…“

Art. 103 UN-Charta besagt:

„Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Nationen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta Vorrang.“

Ein Vertrag zulasten Dritter, der die Bündnisfreiheit einschränkt, also ein Vertrag zwischen den NATO-Staaten und Russland, der die NATO-Osterweiterung untersagt hätte, wäre also völkerrechtlich, salopp gesagt, nichts wert gewesen, da er gegen die Bündnisfreiheit die in der UN-Charta verankert ist, verstößt. Die NATO erkennt auch selbst in Art. 7 des Nordatlantikvertrages dieses Recht auf Bündnisfreiheit an, indem es auf die UN-Charta verweist. Dennoch wurde, entgegen der nun zu behandelnden falschen These 3 sehr wohl Rücksicht auf Russlands Interessen genommen und das Problem politisch beachtet.

Verschwörungstheorie Nr. 3:
Mit Russland wurde nie geredet und man hat von Seiten der NATO keine Rücksicht auf Russlands Interessen genommen

Sehr wohl waren sich die NATO-Staaten vor der Osterweiterung bewusst, dass diese Russland ein Dorn im Auge sein würde. Daher wurde die NATO-Russland Grundakte (vollständig: Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation) geschaffen. Diese ist nur eine völkerrechtliche Absichtserklärung, enthält aber eine Vielzahl von Grundsätzen, die Vertrauen schaffen und Spannungen gerade abbauen sollten. Dabei heißt es in der NATO-Russland Grundakte:

„Bei der Umsetzung dieser Akte werden die NATO und Russland ihre Verpflichtungen nach dem Völkerrecht und aus internationalen Übereinkünften, einschliesslich der Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie der Schlussakte von Helsinki und der späteren OSZE-Dokumente, darunter der Charta von Paris und der auf dem Lissabonner OSZE-Gipfel angenommenen Dokumente, gewissenhaft einhalten.“

Auch hier spielt die UN-Charta wieder eine zentrale Rolle und Russland genauso wie auch die NATO-Staaten erklären die Absicht, sich an diese Grundsätze halten zu wollen. Einige Punkte, über die sich die NATO, als auch Russland einig waren, sind (unter I. Grundsätze):

  • Aufbau einer starken, stabilen, dauerhaften und gleichberechtigten Partnerschaft und der Zusammenarbeit auf der Grundlage der Transparenz mit dem Ziel, die Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum zu stärken; Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit in einer Weise, die mit der Charta der Vereinten Nationen oder der in der Schlussakte von Helsinki enthaltenen Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, unvereinbar ist;
  • Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es in der Schlussakte von Helsinki und anderen OSZE-Dokumenten verankert ist, selbst zu wählen
  • Verhütung von Konflikten und Beilegung von Streitigkeiten durch friedliche Mittel im Einklang mit den Prinzipien der VN [Vereinten Nationen] und der OSZE;

Gleichzeitig wurde der NATO-Russland Rat geschaffen, der eine Plattform für Gespräche bilden sollte, aber seit der Krimannexion und der Unterstützung der Separatisten durch Russland in den selbsternannten sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk versandeten diese Gespräche immer weiter, bis Russland kurz vor der Invasion der Ukraine am 17. Februar 2022 erklärte, dass es sich nicht mehr an Gesprächen beteiligen wolle.

Es ist also nicht richtig zu behaupten, dass mit Russland nicht gesprochen wurde. Es existiert zwar kein völkerrechtlicher Vertrag, es wurden aber politische Gespräche geführt. Klar ist aber auch durch die Absichtserklärung, dass dies unter den Prinzipien der UN-Charta erfolgen musste. Man kann also nicht davon sprechen, dass russische Bedenken und Interessen nie beachtet wurden. Allerdings bestanden auch die Interessen der osteuropäischen Staaten, die wie man nun auch sieht zurecht Angst vor einem russischen Überfall hatten. In der Abwägung wurde daher ihren Beitrittsgesuchen stattgegeben. Dies in dem Bewusstsein, dass man zu Russland dennoch Vertrauen schaffen muss. Dies zeigt sich auch an der falschen These Nr. 4.

Verschwörungstheorie Nr. 4:
NATO-Truppen standen jederzeit bereit, um Russland zu überfallen und Nuklearwaffen waren kein Tabu, auch nicht für die Ukraine

Gegen die These, dass die NATO jederzeit bereitstand, Russland auch mit dem Einsatz von Nuklearwaffen zu überfallen, spricht schon der Grundgehalt der NATO-Russland-Akte. Dort steht eindeutig unter IV.:

„Die Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch die Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern – und dazu auch in Zukunft keinerlei Notwendigkeit sehen. Dies schliesst die Tatsache ein, dass die NATO entschieden hat, sie habe nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass, nukleare Waffenlager im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten einzurichten, sei es durch den Bau neuer oder die Anpassung bestehender Nuklearlagerstätten. Als nukleare Waffenlager gelten Einrichtungen, die eigens für die Stationierung von Nuklearwaffen vorgesehen sind; sie umfassen alle Typen gehärteter ober- oder unterirdischer Einrichtungen (Lagerbunker oder -gewölbe), die für die Lagerung von Nuklearwaffen bestimmt sind.“

Dahingehend sollte Russland eine große Sorge genommen werden. Natürlich mag man dem entgegengehalten, dass dies keine völkerrechtlich verbindliche Zusage, sondern nur eine Absichtserklärung ist. Tatsächlich ist aber nicht bekannt, dass es im Zuge der NATO-Osterweiterung zu irgendeiner Form der Stationierung von Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten gekommen ist. Auch in der Ukraine wäre dies nach der Grundakte bei einer Mitgliedschaft (zur möglichen Mitgliedschaft These 5) nicht möglich gewesen. Darüber hinaus regelte das Budapester Memorandum (das nach h.M. allerdings auch nur eine politische Absichtserklärung ist):

“…Welcoming the Accession of Ukraine to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons as a non-nuclear-weapon state,” (Begrüßung des Beitritts der Ukraine zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen als Nicht-Kernwaffenstaat).“

Da die Ukraine alle ihre Kernwaffen abgab, konnte sie dem sog. Atomwaffensperrvertrag beitreten. Das letzte Silo, welches Atomwaffen abschießen konnte, wurde 2010 versiegelt. Die Ukraine trat in der Folge dem Atomwaffensperrvertrag – der ein völkerrechtlicher Vertrag ist – bei. Insofern bestand auch von dieser Seite keine Gefahr eines nuklearen Angriffs auf Russland. Im Gegenzug wurde im Memorandum festgehalten:

“The Russian Federation, the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, and The United States of America reaffirm their commitment to Ukraine, in accordance with the principles of the CSCE Final Act, to respect the independence and sovereignty and the existing borders of Ukraine.”

(„Die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika bekräftigen ihre Verpflichtung gegenüber der Ukraine, in Übereinstimmung mit den Prinzipien der KSZE-Schlussakte die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten.“)

Letztere Verpflichtung ergibt sich rechtlich verbindlich bereits aus der UN-Charta (siehe oben). Die Angst vor Nuklearwaffen war also unbegründet und die territoriale Souveränität der Ukraine war zu achten. Daran ändert auch die jüngsten Behauptungen von Wladimir Putin nichts, der bemerkte, dass die Ukraine leicht Atomwaffen bekommen könnte – was faktisch und rechtlich widerlegt ist – und behauptete, dass der Krieg verhindern solle, dass ein

„..über Jahre vom Westen geschaffenes Antirussland uns (Anm. Putin bezog sich auf Russland) bedroht, auch mit Nuklearwaffen, wie es in jüngster Zeit war“.

(https://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine-konflikt-putin-stellt-russen-auf-einen-langen-krieg-ein-17849941-p2.html).

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Ukraine Atomwaffen hat. Weder haben internationale Behörden dies festgestellt, noch hat das russische Regime Beweise vorgelegt.

Bezogen auf konventionelle Streitkräfte hielt die NATO-Russland-Grundakte fest:

„Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“

Aus diesem Grund gab es über lange Zeit keine dauerhafte Stationierung von NATO-Truppen in den Staaten der Osterweiterung. Erst mit der zunehmenden Aggression Russlands hat sich dies geändert, sodass dies kein Tabu mehr war. Politisch ist man Russland dahingehend entgegengekommen. Rechtlich sei darauf hingewiesen, dass die Freiheit der Bündniswahl es zulässt, dass Staaten Truppen eines Bündnisses, dem sie angehören, auf ihr Territorium lassen. Entgegenstehende Vereinbarungen wären zwar nicht unwirksam, aber die UN-Charta hat Vorrang. Russland seinerseits hat diesen Grundsatz dahingehend genutzt hat, dass es Truppen in Belarus stationiert hat.

Verschwörungstheorie Nr. 5:
Die Ukraine stand kurz vor der Mitgliedschaft in der NATO

Dass die Ukraine sich um die NATO-Mitgliedschaft bewerben darf, wurde rechtlich dargestellt. Der Beitritt zur NATO (und der EU) steht auch seit 2019 als Ziel in der Verfassung der Ukraine. Auch dies ist rechtlich nicht zu beanstanden. Es gibt keine völkerrechtliche Position, die ein solches Ziel verhindert. Dennoch war mit einem baldigen Beitritt nicht zu rechnen. Zunächst sei auf Art. 10 des Nordatlantikvertrages hingewiesen:

„Die Parteien können durch einstimmigen Beschluß jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen, zum Beitritt einladen.“

Faktisch kann also die Ukraine die NATO bitten (und hat dies ja auch bereits getan), sie als Mitglied aufzunehmen. Einen rechtlichen Anspruch auf einen Beitritt der Ukraine gibt es nicht. Tatsächlich ist das Verfahren in der Praxis komplex und kann sich wie im Falle Nordmazedoniens über mehr als 20 Jahre hinziehen.

Der Einladung zum Beitritt geht ein mehrstufiges, politisch formalisiertes Verfahren voraus. Dieser Prozess ist nicht rechtlich geregelt, sondern politisch vorgegeben. So erhält ein beitrittswilliger Staat zunächst einen informellen „Kandidatenstatus“, um dann – wiederum auf Einladung der NATO – an einem speziell auf den jeweiligen Beitrittskandidaten zugeschnittenen Unterstützungs- und Vorbereitungsprogramm teilzunehmen (sog. Membership Action Plan (MAP)). So sollen Staaten in wirtschaftlicher, militärischer und politischer Hinsicht auf den Beitritt zur NATO vorbereitet werden. Die Ukraine hat bis heute nicht am MAP teilgenommen. Theoretisch könnte natürlich ein Staat über Nacht aufgenommen werden. Faktisch existiert die konkrete Gefahr eines NATO-Beitritts, die Russland behauptet hat, jedoch nicht, da hierzu noch viele weitere Schritte nötig waren.

Die Aussage von Bundeskanzler Scholz bei den Gesprächen kurz vor der illegalen Invasion der Ukraine durch die russischen Streitkräfte, dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO aktuell kein Thema sei, war daher schon aus diesem formellen Grund zutreffend.

Ein letzter Punkt, der gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine spricht, ist Art. 5 des Nordatlantikvertrages. Staaten mit territorialen Konflikten werden grundsätzlich nicht in die NATO eingeladen, da sie sofort den Bündnisfall auslösen könnten. Gerade im Fall der Ukraine mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und den völkerrechtswidrigen selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk wäre die Gefahr eines Krieges zwischen der NATO und Russland viel zu hoch.

Putin hat also selbst dafür gesorgt, dass eine Mitgliedschaft der NATO de facto unmöglich ist. In der aktuellen Situation gilt dies umso mehr, da die NATO sofort im Krieg mit Russland wäre.

Verschwörungstheorie Nr. 6:
Die Ukraine hätte eine Mitgliedschaft in der EU erhalten können, sodass die USA mit ihrem Militär an die Grenze gerückt wären

Der EU-Beitritt ist sehr kompliziert. Diesen zu erläutern, würde endgültig jeden Rahmen des Beitrages sprengen. Aber auch wenn die Ukraine Reformen eingeleitet hat, war sie doch noch sehr viele Jahre von einem Beitritt entfernt. Unter anderem sind eine Reihe rechtsstaatlicher und wirtschaftlicher Reformen notwendig, um sich in Richtung EU entwickeln zu können. Das Thema stand in absehbarer Zeit nicht auf der Agenda.

Wieso US-Militär bei einem EU-Beitritt an die russische Grenze gerückt wäre, wie es in sozialen Netzwerken teilweise zu lesen ist, erschließt sich nicht. In den europäischen Vertragswerken spielt die USA keine Rolle und kann aus diesen auch kein Recht herleiten, Militär in der Ukraine zu stationieren. Denn die Mitgliedschaft in der EU ist unabhängig von der in der NATO. Kein NATO-Mitglied in Europa wird automatisch auch EU-Mitglied. Beispiele dafür gibt es reichlich, so sind z.B. Österreich, Irland, Schweden und Finnland zwar EU-Mitglieder, nicht aber nicht in der NATO . Umgekehrt sind z.B. Norwegen, Island und Nordmazedonien in der NATO, nicht aber in der EU.

Verschwörungstheorie Nr. 7:
Der Einsatz dient der Entnazifizierung

Die Behauptung, dass in der Ukraine Neonazis an der Macht seien, lässt sich ebenso nicht belegen. Man möge als erstes daran denken, dass der ukrainische Präsident Selenskyj Jude ist. Das allein lässt die These schon äußerst fragwürdig erscheinen, aber auch der Staatsaufbau der Ukraine liefert keine Hinweise darauf. Die Verfassung ist an modernen Republiken und Demokratien ausgerichtet; die Gewaltenteilung verankert und auch sonst finden sich keine Merkmale des Nationalsozialismus in der Verfassung.

Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine wurden von unabhängigen Wahlbeobachtern als frei bezeichnet ( „The 2019 presidential election in Ukraine was competitive and held with respect for fundamental freedoms“ Die Präsidentschaftswahlen 2019 in der Ukraine waren wettbewerbsorientiert und wurden unter Achtung der Grundfreiheiten abgehalten; https://www.osce.org/files/f/documents/8/d/417821_2.pdf).

Zwar wird vom russischen Regime behauptet, dass es zum Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine gekommen sei. Hierzu gibt es aber keinerlei Hinweise und keine Untersuchung hat dies festgestellt. Bezeichnend ist dabei, dass selbst das russische Regime keine entsprechenden Belege vorgelegt hat, sondern sich rein auf die die Behauptung versteift.

Das Russischsprachige in der Ukraine ausgeschlossen werden (durch Verfassung, Gesetze) oder gar systematisch diskriminiert werden, lässt sich nicht belegen. Vielmehr lässt sich erkennen, dass das russische Regime den Einsatz führt, um eine pro-russische vom Kreml aus gesteuerte Marionettenregierung zu installieren und die Staatlichkeit der Ukraine aufzulösen, wie es Wladimir Putin selbst in mehreren Aufsätzen dargelegt hat, in denen er der Ukraine die Staatlichkeit absprach.

Verschwörungstheorie Nr. 8:
Eine Finnlandisierung und Entmilitarisierung der Ukraine hätte in jedem Fall einen Krieg verhindert

Der letzte Punkt hängt mit einem Kriegsziel des russischen Regimes zusammen. Die Entmilitarisierung der Ukraine und die Herstellung eines neutralen Status. Putinversteher (und leider auch Experten, die vor Kriegsbeginn dachten, man könnte Putin beschwichtigen) favorisieren, dass die Ukraine einen Status wie Finnland erhalten solle. Völkerrechtlich ist neben der freien Wahl des Bündnisses aus den gleichen Normen die Bündnisfreiheit erklärbar. Dies bedeutet Neutralität wie sie z.B. Finnland bereits im kalten Krieg erklärt hat (auch Schweden und Österreich sind neutral, Irland ist militärisch neutral).

Finnlandisierung meint dabei die Pflege guter Beziehungen zu einem Nachbarstaat unter Neutralität bei Bündnissen. Dies bedeutet aber nicht gleichzeitig die Entmilitarisierung (auch Finnland hat Militär!). Allerdings ist zu beachten, dass auch in Finnland oft kritisiert wurde, dass in vorauseilendem Gehorsam gehandelt habe, um den Nachbarn UdSSR nicht zu verärgern.

Ungeachtet der Kritik an dem Begriff haben die oberen Ausführungen aber bereits gezeigt: Ein Staat kann nicht gezwungen werden, sich bündnisfrei zu erklären. Neutralität kann nicht von einem großen Nachbarn in dessen angeblicher Einflusssphäre gefordert oder gar vertraglich vereinbart werden. Dies verstößt gegen die UN-Charta und Art. 103 der UN-Charta ordnet den Vorrang von dieser vor einer völkerrechtlichen Vereinbarung an, die gegen die UN-Charta verstößt.

Auch verstößt eine Entmilitarisierung der Ukraine durch Russland oder eine mögliche Verpflichtung der Ukraine gegenüber Russland, sich zu entmilitarisieren gegen das Völkerrecht. Ein Angriffskrieg kann hierdurch völkerrechtlich nicht gerechtfertigt werden und auch die in der UN-Charta verankerte Souveränität erlaubt es der Ukraine, Militär zu haben.

Beachtet man nur die letzten Wochen, zeigt sich der Gedanke noch deutlicher, der hinter dem Plan der Entmilitarisierung der Ukraine steht: Es geht darum, dem russischen Regime jederzeit zu erlauben, einzufallen und ‚unpassende‘ politische Entscheidungen wie Wahlen o.Ä. zu verhindern. Am Ende geht darum, der Ukraine die Staatlichkeit, die Putin der Ukraine sowieso abspricht, zu nehmen.

Der Ukrainekrieg, das Völkerrecht und die Verschwörungstheorien — Fazit

Es steht außer Frage, dass Russland mit dem Überfall auf die Ukraine gegen alle Regeln des Völkerrechts und gegen die Regeln der Menschlichkeit bewusst verstoßen hat. Harte Sanktionen des Westens und anderer Staaten wie z.B. Singapur sind die richtige Antwort an das russische Regime und die Welt muss soweit wie möglich gegen Putin und seine Helfer zusammenstehen.

Dazu gehört auch, dass der Mythenbildung des Kremls ein Riegel vorgeschoben wird. Putinversteher kann man dabei am leichtesten mit Argumenten in die Schranken weisen. Persönliche Angriffe auf diese Menschen, wie man sie in sozialen Netzwerken häufig sieht, helfen an dieser Stelle selten oder nie weiter. Man muss hier ganz klar aufzeigen, wie massiv der Bruch des Völkerrechts ist und dass die Behauptungen und Forderungen Putins und seines Regimes durchweg völkerrechtswidrig sind. Nur mit Argumenten wird man an dieser Stelle überzeugen können.

An dieser Stelle sei aber auch deutlich gesagt, Putin ist nicht Russland. Auch in Russland gehen Menschen aller Schichten gegen den Krieg unter der Gefahr härtester Repressalien wie Verhaftungen und Inhaftierungen auf die Straße. Tausende sollen schon verhaftet worden sein. Russische Intellektuelle verfassten einen offenen Brief an Putin, der natürlich auch sie großer Gefahr aussetzt. Neben der uneingeschränkten Solidarität mit der Ukraine gilt es auch diese Zivilgesellschaft in Russland zu unterstützen, um ein Ende des Krieges herbeizuführen und weiteres Blutvergießen zu stoppen.

Dr. Michael Hoerdt
Autor
Dr. Michael Hördt

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Er war Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. im Arbeitsrecht und für das Irlandgeschäft der Kanzlei zuständig. Aktuell ist er Syndikusrechtsanwalt bei Infosys Limited im Arbeitsrecht in Frankfurt a.M.

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