Das Richteramt im Digitalzeitalter

Nachgefragt: Das Interview mit Richter am OLG Dr. Daniel Saam, über die Herausforderungen des Richteramts im Digitalzeitalter.

Nachgefragt: Das Interview mit Richter am OLG Dr. Daniel Saam, über die Herausforderungen des Richteramts im Digitalzeitalter

Dass juristische Karrieren vielschichtig sein und gleichzeitig mit gesellschaftspolitischem Einfluss verknüpft werden können, lesen Sie an verschiedenen Stellen unseres Jahrbuchs 2020. Ein besonderes Beispiel dafür ist auch der Weg von Richter am OLG Dr. Daniel Saam. Er hat zunächst Berufserfahrung in der Anwaltschaft gesammelt, um sich anschließend auch ehrenamtlich zu engagieren. Davon profitieren alle Beteiligten auf unterschiedlichste Weise.

Herr Dr. Saam, zwischen Ihrem Universitätsexamen und Ihrer Berufung zum Richter am Oberlandesgericht liegen keine fünfzehn Jahre, eine zwischenzeitliche Promotion schon eingeschlossen. Wussten Sie sofort nach dem Studium, dass Sie diesen Weg einschlagen wollen?

Nein, das wusste ich nicht. Ehrlich gesagt, hatte ich, als ich mein Jura-Studium begann, keine konkrete Vorstellung, was ich später beruflich machen wollte. Nach einem Semester Lehramtsstudium mit den Fächern Mathematik und Biologie dachte ich darüber nach, Journalist zu werden.

Das Studium der Rechtswissenschaften schien mir damals eine gute Grundlage für eine Tätigkeit als politischer Journalist zu sein, zumal mich rechtsphilosophische und staatsrechtliche Fragen schon länger interessierten. Dass mich meine damaligen Suchbewegungen am Ende zu einer richterlichen Tätigkeit führen könnten, hatte ich damals nicht im Blick.

Das erste Mal, dass ich überhaupt über eine Tätigkeit als Richter nachdachte, war kurz vor der mündlichen Prüfung im zweiten Staatsexamen. Damals wurde ich gefragt, ob ich mir denn eine Tätigkeit in der Justiz vorstellen könnte. Danach hat es noch einige Zeit gedauert, bis die Idee, die mir damals eingepflanzt wurde, herangewachsen war und ich mich beim hessischen Justizministerium bewarb.

Die Berufserfahrung in anderen Rechtsgebieten hat mir sehr geholfen.

Nach dem zweiten Staatsexamen war ich zunächst als Rechtsanwalt in einer großen Wirtschaftskanzlei und dann als Einzelanwalt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität tätig. Erst als ich mich nach Abschluss meiner Promotion in einigen Kanzleien beworben und auch schon einige vielversprechende Vorstellungsgespräche gehabt hatte, dachte ich wieder über eine Richtertätigkeit nach. Und dann habe ich mich einfach beworben und es dauerte nicht lange, bis ich als Richter beim Landgericht Darmstadt angefangen habe.

Wie sind Sie nach dem Wechsel in die Richterschaft mit dem Umstand umgegangen, dass Sie sich fachlich nur mehr bedingt in einer bestimmten Richtung fortbewegen konnten – das haben Sie als Anwalt doch sicherlich besser in der Hand gehabt?

Als Rechtsanwalt oder Syndikus hat man sicher regelmäßig mehr Einfluss darauf, in welche fachliche Richtung man sich entwickelt. Insbesondere in spezialisierten Rechtsabteilungen oder Kanzleien mit einem klaren Praxisgruppen-Zuschnitt.

Dass man dies in der Richterschaft – insbesondere zu Beginn – nur bedingt beeinflussen kann, habe ich unmittelbar nach Einstellung in die Justiz und auch später noch einmal erfahren dürfen. Wenngleich die Erforderlichkeit einer Spezialisierung auch in der Justiz immer mehr zunimmt, ist die Privatwirtschaft da sicher weiter.

Einerseits habe ich es schon auch mal bedauert, dass ich in der Justiz nicht gleich wieder im zivilrechtlichen Bereich tätig werden konnte. Andererseits kann ich im Rückblick sagen, dass ich durch die Tätigkeiten in anderen Rechtsgebieten vieles gelernt und Einblicke in Bereiche erlangen durfte, die ich so wohl nicht gehabt hätte, wenn ich nur im Bereich des Zivilrechts geblieben wäre.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass mir die Berufserfahrung in den anderen Rechtsgebieten auch für meine mittlerweile wieder mehrjährige Tätigkeit als Zivilrichter sehr geholfen und mich auch persönlich bereichert hat.

Sie haben früh begonnen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Zum Zeitpunkt unseres ersten Gesprächs waren Sie seit über fünf Jahren der Hessische Landesvorsitzende des Deutschen Richterbundes. Worum geht es und welche Themen diskutiert man dort?

Der Deutsche Richterbund ist der Berufsverband der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Deutschland, dessen hessischer Landesvorsitzender ich seit 2014 bis Ende 2019 sein durfte. Der Richterbund versucht insbesondere gegenüber der Justizverwaltung aber auch gegenüber der Presse und der Politik die richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Belange zu Gehör zu bringen.

Neben Dauerbrenner- Themen wie die Arbeitsbelastung, die seit Jahren zunimmt, die Wahrung richterlicher Unabhängigkeit, Besoldung und Versorgung oder Juristenausbildung hat es der hessische Richterbund in den vergangenen Jahren geschafft, auch viele Zukunftsthemen zu adressieren und Diskussionen anzustoßen.

Die Frage ist, wie die Justiz in Zukunft effizient arbeiten kann, ohne sich vom Richterbild des Grundgesetzes zu entfernen.

Zum Beispiel haben wir – auch im Rahmen unserer letzten Jahresmitgliederversammlung – versucht, einen Diskurs darüber in Gang zu setzen, ob und wie der von Legal Tech-Unternehmen zunehmend ausgeübte Anpassungsdruck auf die Justiz in neue Wege bei der Gestaltung von modernen Prozessordnungen und Arbeitsweisen umgewandelt werden kann, ohne unsere rechtsstaatlichen Errungenschaften, wie die richterliche Unabhängigkeit, aufs Spiel zu setzen.

Sehen Sie mit Blick auf die Digitalisierung große Unterschiede in der Arbeitsweise der verschiedenen „Richtergenerationen“?

Betrachtet man die vergangenen zehn Jahre, könnte man von außen betrachtet meinen, dass sich an der Arbeitsweise von Richterinnen und Richtern nur wenig verändert hat. Wie auch in Kanzleien findet sich auf den Schreibtischen der Kolleg*innen seit einigen Jahren moderne IT, man hat Zugriff auf die gängigen Datenbanken, es wird gut funktionierende Spracherkennungssoftware eingesetzt und die Protokolle in den mündlichen Verhandlungen werden weitgehend digital aufgezeichnet. Ich denke aber schon, dass man Unterschiede bei den Richtergenerationen erkennen kann, soweit es die Offenheit gegenüber neuen technischen Mitteln anbetrifft.

Diese sind zwar nicht im Einzelfall zwingend aber doch strukturell. Dass ein Digital Native sicher einen leichteren Zugang zu einer vollständigen elektronischen Akte und zum elektronischen Rechtsverkehr hat, dürfte bei der Anwaltschaft und dem dortigen Einsatz von modernen technischen und softwarebasierten Mitteln aber entsprechend gelten.

Es ist ja schon nicht unbedingt einfach, eingeschliffene Arbeitsweisen zu reflektieren und zu prüfen, geschweige denn sie grundsätzlich zu verändern. Wenn man mit Technik aufwächst, dürfte es schon deswegen leichter fallen, sie auch beruflich einzusetzen.

Meines Erachtens hängt die Offenheit gegenüber Legal Tech-Themen nicht notwendigerweise von den Regionen, Instanzen oder Gerichtsbarkeiten ab. Sie hängt aber sicherlich davon ab, ob sich in bestimmten Gerichten oder gar Gerichtsbarkeiten eine Kultur der Offenheit gegenüber solchen Entwicklungen etabliert hat oder eben nicht.

Während man beispielsweise in der ordentlichen Gerichtsbarkeit immer wieder eine gewisse Dankbarkeit vernehmen kann, dass man die elektronische Akte vor dem Ruhestand nicht mehr erleben wird, ist zu hören, dass die Kolleg*innen in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit der elektronischen Akte viel offener gegen über stehen. Wie die Entwicklung weitergeht und ob sich eine Kultur der Offenheit etabliert, hängt aber auch davon ab, welche Bedeutung sie bei den Verantwortlichen in der Justizverwaltung und der Politik bekommt.

Inwieweit stellen sich neben eher alltagspraktischen Herausforderungen nach Ihrer Einschätzungen auch Herausforderungen grundsätzlicher Natur? Konkret: Ist zu befürchten, dass der Einsatz digitaler Instrumente in der Justiz ab einem bestimmten Punkt mit der richterlichen Unabhängigkeit kollidiert?

Wenngleich die Beschäftigung mit diesen Fragen noch nicht dringlich erscheint, sollte man sie meines Erachtens heute schon stellen und diskutieren. Es geht schließlich um einen Grundpfeiler unseres demokratischen Rechtsstaats. Einerseits besteht die Gefahr, dass – wenn sie die technischen Entwicklungen im privaten Rechtsmarkt nicht adressiert – die Justiz ihre Position als universelle Streitentscheidungsinstanz in einzelnen Bereichen weiter an private Streitentscheider, wie Schiedsgerichte, verliert.

Zugleich wird die Justiz durch Legal Tech-Start Ups mit großen Zahlen einfach skalierbarer Fälle (z.B. Entschädigungsklagen auf Basis der Fluggastrechte Verordnung) befasst. Dabei arbeiten die Inkassodienstleister stark automatisiert, während innerhalb der Justiz derzeit noch Papierakten von vielen Beschäftigten in die Hand genommen und mehrfach hin- und her-befördert werden müssen. Insoweit sind die Verfahrensinhalte oft nicht kompliziert und regelmäßig redundant.

Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist, wie sollte und kann die Justiz auf diese Entwicklungen reagieren, damit die Justiz auch in Zukunft effizient arbeiten kann, ohne sich von dem Richterbild des Grundgesetzes zu entfernen. Können wir bei der richterlichen Arbeit auch automatisierte Systeme einsetzen, die beispielsweise Entscheidungen vorbereiten oder gar entwerfen? Wenn ja, wo und in welchem Umfang? Besteht die Gefahr, dass die zunehmende Arbeitsbelastung dazu führt, dass technische Entscheidungshilfen nicht in der gebotenen Weise kontrolliert werden? Können sich richterliche Entscheidungen im Strafrecht auf die Richtigkeit einer softwarebasierten Durchsicht großer Datenmengen stützen? Wie gehen wir mit der Ana lyse von richterlichem Entscheidungsverhalten durch digitale Systeme um?

Umgekehrt die sicherlich etwas provokante, aber auch nicht abwegige Frage: Könnten wir irgendwann an einen Punkt gelangen, an dem „Gerechtigkeit“ sowie „Rechtsfrieden“ und ihnen nachlaufend „Akzeptanz“ als Kernwerte richterlicher Rechtsschöpfung sogar den Einsatz größtmöglicher Datenmengen gebieten, die dann mit bestmöglich arbeitenden Algorithmen zu Entscheidungen verarbeitet werden – und das auch noch schneller als bisher? Mit anderen Worten: Was entgegnen Sie, wenn irgendwann die Forderung nach dem automatisierten Montesquieu`schen Richter aufkommt, der als perfekter „bouche de la loi“ agiert?

Auch wegen dieser Fragen ist eine Auseinandersetzung mit der digitalen Entwicklung im Bereich des Rechtsmarktes auch aus Sicht der Justiz dringend erforderlich. Die Fragen berühren die Grundlagen unseres Rechts- und Richterverständnisses. Nach dem Grundgesetz soll ein/e Richter* aber nicht schlicht der vollziehende Mund des Gesetzes sein. Denn nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das Recht gebunden.

Wie automatisierte Systeme abstrakte Regelungen auf Fälle anwenden, für die der Gesetzgeber die Regeln nicht geschaffen hat – also Rechtsfortbildung betreiben –, kann ich mir derzeit auch noch schwer vorstellen. Schließlich möchte wohl kaum jemand von uns von einem Computer verurteilt werden, wenn es z.B. um zwischenmenschliche Streitigkeiten geht. Das ist vielleicht bei kleinen Streitgegenständen, bei denen es nur um Geld geht, hinnehmbar. Das ist anders als bei einem Streit unter Angehörigen, Geschäftspartnern, zwischen Nachbarn oder gar einer Verurteilung zu einer Haftstrafe.

Wenn Sie all denjenigen Ihrer jungen Leser*innen, die den Richterberuf ergreifen möchten, drei Ratschläge für ihre berufliche Zukunft im Digitalzeitalter mitgeben dürften: Welche wären das?

Als erstes sollte man stets offen für Neues und geistig beweglich bleiben. In Zeiten zunehmend rasanter Entwicklungen und Vernetzungen verändern sich die Verhältnisse ebenfalls immer schneller. Zugleich sollte man versuchen, sich seine geistige Unabhängigkeit und Ruhe zu bewahren, um in diesen sich wandelnden Zeiten den Anforderungen an eine/n Richterin im demo- kratischen Rechtsstaat gerecht werden zu können. Die Tätigkeiten als Richterin sind für unser Gemeinwesen von enormer Bedeutung. Auch deshalb sollte man seine Tätigkeit und die Wirkungen auf andere immer wieder kritisch hinterfragen und sich der Aufgabe und ihrer Bedeutung bewusst sein.

Privat sind Sie Fan des einheimischen Fußball-Erstligisten Eintracht Frankfurt, dem Sie unter anderem in den sozialen Medien folgen. Aber hat man bei derart umfangreichen Verpflichtungen und Aktivitäten auch noch Zeit, ganz real zu seiner Mannschaft ins Waldstadion zu gehen?

Ich versuche, ein paar Mal im Jahr ins Stadion zu gehen, was in den letzten zwei bis drei Jahren auch ganz gut geklappt hat. Das erste Mal war ich selbst als Kind im Waldstadion und fiebere seitdem bis heute immer noch gerne bei der Eintracht mit.


Herr Dr. Saam, vielen Dank für das Gespräch.

Dieser Beitrag erschien zuerst im JURAcon Jahrbuch 2020

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Autor
Dr. Daniel Saam

Dr. Daniel Saam ist Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Nach dem Jurastudium an der Goethe- Universität und dem Referendariat in Frankfurt am Main und Toronto/Kanada, war er u.a. als Rechtsanwalt in einer internationalen Wirtschaftskanzlei und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Lehrstuhl für Internationales Privatrecht tätig. Anschließend trat er in den hessischen Justizdienst ein mit Stationen in einer großen Strafkammer, bei einem Amtsgericht und beim Hessischen Ministerium der Justiz. Saam war von 2014 bis 2019 Landesvorsitzender des Richterbundes Hessen.

Dr. Anette Schunder-Hartung
Autorin
Dr. Anette Schunder-Hartung

Das Interview führte Dr. Anette Schunder-Hartung, Rechtsanwältin, aHa Strategische Kanzleientwicklung, Frankfurt am Main