Hindernisse, Glück und die Bedeutung von Chancengleichheit im Bildungssystem

Ein Erfahrungsbericht, der die persönliche Geschichte einer jungen Juristin erzählt und die Bedeutung von Bildung, Unterstützung und Chancengleichheit unterstreicht.

„Ich erkannte, welch ein Privileg es war, diesen Weg gegangen zu sein“

Fast täglich erinnern uns Zeitungsartikel, Radiobeiträge oder Podiumsdiskussionen daran, dass alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, ihrer Abstammung oder ihres Geschlechts den gleichen Zugang zum Bildungssystem verdienen. In der Realität wissen wir aber, dass die gegenwärtige Lage noch ziemlich weit von diesem Ideal entfernt ist.

Jeder von uns hat seine eigene Geschichte – das ist meine.

Der schwierige Neuanfang: Flucht und Ankunft meiner Familie in Deutschland

1995 wurden meine Eltern zusammen mit meinen damals vier- und fünfjährigen Schwestern aufgrund ihrer Abstammung und ihres Glaubens aus ihrer Heimat vertrieben. In Deutschland angekommen, standen sie vor großen Herausforderungen. Sie waren weder der Landessprache mächtig, noch konnten sie einen akademischen Abschluss vorweisen.

Dadurch war die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben fast unmöglich. Stattdessen sahen sie sich einer Vielzahl von Vorurteilen ausgesetzt und waren bedauerlicherweise auch in Deutschland mit diskriminierenden Erfahrungen konfrontiert. Dennoch bemühten sich meine Eltern, ihren Kindern ein Leben in Sicherheit zu gewährleisten und ihnen die Erfolg versprechende Perspektive zu ermöglichen, die sie selbst niemals hatten.

Ein neues Leben aufbauen

So kam ich 1998 in Neubrandenburg auf die Welt und verbrachte mein erstes Lebensjahr in einem Flüchtlingsheim, bis meine Familie die erste eigene Wohnung beziehen durfte. Nachdem sich für meine Eltern die Möglichkeit eröffnet hatte, in einer Glaserei in Köln zu arbeiten, zogen wir um.

Meine Eltern arbeiteten hart, um sich eines Tages den Traum der beruflichen Selbstständigkeit zu ermöglichen. Allerdings stellten sich auch hier immer wieder große Hürden. Daher schien der Wunsch anfangs unerreichbar, durch ihren beharrlichen Einsatz rückte er jedoch in greifbare Nähe. Nach einigen Jahren, in denen sie auf vieles verzichten mussten, um genügend Geld anzusparen, wagten sie den mutigen Schritt, einen Kiosk zu eröffnen.

Dadurch, dass sie die Sprache nur dürftig beherrschten und ich eingeschult wurde, war auch diese Entscheidung mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Von einem auf den anderen Tag änderte sich alles. Meine Eltern arbeiteten von früh bis spät, sodass ich sie kaum noch sah. So waren meine Geschwister und ich schon sehr früh auf uns selbst gestellt.

Gleichwohl freute ich mich auf die Einschulung und darauf, neue Freundschaften zu schließen, während dasselbe Ereignis für meine Eltern sowohl in finanzieller als auch in emotionaler Hinsicht eine große Belastung bedeutete. Die Materialliste für die erste Klasse war lang und eine Unterstützung bei den Hausaufgaben nahezu unmöglich.

Schulische Hürden und die Unterstützung, die zählt

Trotz einiger Hürden schaffte ich es, gute Noten zu erzielen. Dennoch sprach meine Klassenlehrerin lediglich eine Empfehlung für die Realschule aus. Rückblickend habe ich in der Realschule die wertvolle Erfahrung machen dürfen, eine Klassenlehrerin zu haben, die mich nicht nur gefordert, sondern mich auch in allen Bereichen unterstützt hat. Seit vielen Jahren hegen wir eine innige und vertrauensvolle Verbindung, die bis zum heutigen Tag anhält.

Daneben gab es auch Lehrer, die nicht daran geglaubt haben, dass ich jemals den Weg zum Studium, geschweige denn auf das Gymnasium schaffen würde. Trotz dieser Zweifel konnte ich stets auf den bedingungslosen Rückhalt meiner Eltern zählen.

Sie haben uns eindrucksvoll vermittelt, dass Bildung der Schlüssel zum Erfolg ist und wir alles erreichen können, wenn wir nur mit genügend Hingabe und Fleiß daran arbeiten. Auch meine Geschwister haben mich immer in einer bedeutsamen Weise unterstützt. Gemeinsam haben wir zahlreiche Herausforderungen gemeistert und uns durch schwierige Zeiten gekämpft.

Schließlich ging die berufliche Selbstständigkeit aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse meiner Eltern mit großem Bürokratieaufwand einher. Dazu kamen zahlreiche Arzttermine, Behördengänge und Telefongespräche, welche meine Eltern alleine nicht bewältigen konnten. Diese Erfahrungen haben uns seit Beginn unserer Kindheit geprägt, sodass wir nicht nur eine starke Bindung aufgebaut, sondern auch ein tiefes Vertrauen zueinander entwickelt haben.

Einflüsse von zu Hause: Die Rolle meiner Familie in meiner beruflichen Entscheidung

Neben unserer emotionalen Verbundenheit gab es auch andere Faktoren, die uns zusammenbrachten. Wir wuchsen in einem Elternhaus auf, in dem politische und gesellschaftliche Themen alltäglich waren. Meine Eltern, die von ihrer Vergangenheit stark geprägt sind, waren bedacht darauf, dass wir niemanden ausgrenzen.

Stattdessen wurden wir ermutigt, uns stets für andere einzusetzen – besonders für diejenigen, die es in unserer Gesellschaft am schwersten haben. Dadurch entstand schon in meiner frühen Jugend das Bedürfnis, mich in der Gesellschaft einzubringen. Neben meiner Tätigkeit im Vorstand der Jugendorganisation einer politischen Partei verbrachte ich meine freie Zeit unter anderem damit, in Flüchtlingsunterkünften zu arbeiten. Die Erfahrungen, die ich dabei sammeln durfte, haben den Wunsch in mir geweckt, Jura zu studieren und mich für Gerechtigkeit einzusetzen.

Die Möglichkeit, Menschen in schwierigen rechtlichen Situationen zu beraten und ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, hat mich zutiefst inspiriert. Letztlich hat die Entscheidung meiner Schwester, das Jurastudium zu absolvieren, meine eigene Berufswahl nur weiter verstärkt. Sie war und ist für mich noch bis heute eines meiner größten Vorbilder und hat damit den ersten Stein für meinen eignen Lebensweg gesetzt.

Entdeckungsreise in der Oberstufe: Ein tiefes Eintauchen in die Asylpolitik

Nachdem ich 2014 den Sprung auf das Gymnasium geschafft hatte, blieb mein Interesse an politischen und gesellschaftlichen Themen bestehen, was mich dazu veranlasste, Sozialwissenschaften als einen meiner Leistungskurse zu wählen. Ich war voller Neugier und hatte eine Fülle von Fragen, auf die ich Antworten suchte.

Besonders interessant fand ich die Asylpolitik in Europa, weshalb ich dem näher nachgehen wollte und eine Facharbeit mit dem Titel: „Die Dublin Verordnung – Kritik am Asylzuständigkeitssystem“ schrieb. Anschließend nahm ich an einem Planspiel auf Europaebene teil, bei dem wir Reformen der Verordnung diskutierten. Durch diese Möglichkeiten war die Oberstufe eine Reise des Entdeckens und des Lernens, bei der ich mich mit jedem Schritt näher an Antworten heranbewegte, die ich suchte.

Der Beginn des Jurastudiums: Neue Herausforderungen und Selbstvertrauen

Schließlich schaffte ich es, mein Abitur erfolgreich zu absolvieren und zog 2017 nach Mainz, um mein Jurastudium aufzunehmen. Hier fand ich Freunde fürs Leben und gleichzeitig erkannte ich abermals, dass nicht alle den gleichen Ausgangspunkt hatten.

Begriffe wie „Kommilitonen“ oder „Immatrikulation“ waren fremd für mich. Ich musste mich in das System der Universität zunächst einfinden. In finanzieller Hinsicht hatte ich die Mentalität, das Studium so schnell wie möglich abzuschließen, um Geld zu verdienen. Das lag vor allem an den Semesterbeiträgen, den teuren Lehrbüchern und den kostenintensiven kommerziellen Repetitorien.

Durch diese Umstände hatte ich oft das Gefühl, nicht verstanden zu werden, was wiederum zu Selbstzweifeln führte und mich vor Herausforderungen stellte. Es muss Menschen geben, die wirklich denken, dass ich hier nicht reinpasse, ich fehl am Platz bin oder das Studium niemals erfolgreich beenden werde, und manchmal ertappte ich mich selbst dabei, wie auch ich daran glaubte.

Aber genauso oft war ich stolz auf mich und erkannte, was für ein Privileg es war, diesen Weg gegangen zu sein und das Studium aufgenommen zu haben. Ich habe neben dem Studium nicht nur in einer renommierten Anwaltskanzlei gearbeitet, sondern mich weiterhin ehrenamtlich in verschiedenen Hochschulgruppen engagiert und war im Vorstand von ELSA Mainz tätig.

Ein Blick über den Tellerrand: Meine Zeit an der University of Glasgow

Als ich schließlich den staatlichen Teil des Examens abgelegt hatte, absolvierte ich meinen Schwerpunkt an der University of Glasgow. Auch wenn ein integrierter LL.M. aufgrund der hohen Kosten nicht möglich gewesen ist, bin ich dankbar für die Erfahrungen, die ich dort sammeln durfte. Das alles wäre ohne meine Familie niemals denkbar gewesen.

Sie war und ist bis heute meine größte Unterstützung. Vielleicht hat es für eine fachliche Begleitung nie ausgereicht, dafür standen sie mir emotional und physisch umso mehr zur Seite. Sie haben mir all das ermöglicht, was ich heute erreicht habe, und dafür bin ich ihnen unglaublich dankbar.

Vom Glück und der Bedeutung von Chancengleichheit im Bildungssystem

Rückblickend kann ich sagen, dass ich viel Glück auf meinem Lebensweg gehabt habe. In der heutigen Zeit sollte der Werdegang eines Menschen aber niemals allein vom Glück abhängen. Daher ist das „Stipendium für mehr Chancengleichheit“, an dem ich derzeit als Stipendiatin teilnehme und in dessen Rahmen ich von Baker McKenzie persönlich und fachlich gefördert und unterstützt werde, besonders bedeutsam für mich. Es macht diejenigen sichtbar, die oft übersehen werden und die ein solches Netzwerk brauchen, um sich verstanden zu fühlen.

Cigdem Guectekin
Autorin
Çiğdem Güçtekin

Cigdem Güctekin ist derzeit Stipendiatin des „Stipendiums für mehr Chancengleichheit“, das Baker McKenzie im Herbst 2022 ins Leben gerufen hat, um eine fairere Bildungslandschaft und einen gerechteren Arbeitsmarkt im juristischen Bereich zu fördern.

Das Stipendienprogramm fokussiert sich speziell auf Jurastudierende, die aufgrund von finanziellen, kulturellen oder familiären Hürden Schwierigkeiten beim Zugang zu juristischer Bildung erleben. Cigdem Güctekin ist eine von 20 Stipendiatinnen und Stipendiaten, die jeweils für ein Jahr im Zuge unterschiedlicher Aktionen persönlich und fachlich gefördert werden.