Renate Künast, Facebook & die Meinungsfreiheit – die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG hat der Argumentation des Kammergerichts einen Riegel vorgeschoben. Beinahe lehrbuchartig wird in dem Beschluss die Meinungsfreiheit erläutert, sowie deren Grenzen.

Bundesverfassungsgericht stärkt Schutz vor diffamierender Online-Kritik

Schon vor längerer Zeit habe ich einen Beitrag zur Meinungsfreiheit und insbesondere zum Fall Renate Künast verfasst. Künast wurde in sozialen Medien in Zusammenhang mit einem fehlerhaften Zitat verunglimpft und u. a. als „Pädophilen-Trulla“ oder „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck“.

Die Entscheidungen des LG Berlin habe ich in diesem Zusammenhang kritisiert. Nunmehr hat das Bundesverfassungsgericht, nachdem sich auch das Kammergericht geäußert hatte und weite Grenzen der Meinungsfreiheit angenommen hatte, entschieden. (Beschluss vom 19. Dezember 2021 – 1 BvR 1073/20 [1]) Das BVerfG lag dabei auf der Linie meiner in dem früheren Beitrag geäußerten Bedenken.

I. Renate Künast und die Beleidigungen bei Facebook: Ein kurzer Überblick über den Fall

Renate Künast hat von Facebook (mittlerweile Meta) die Herausgabe von Nutzerdaten von Facebooknutzern verlangt, die sie auf Facebook u.a. als „Schlampe“, „Drecksfotze“ „Die will auch nochmal Kind sein weil sonst keiner an die Eule ran geht!“, „Diese hohle Nuß gehört entsorgt, aufe Mülldeponie aber man darf ja dort keinen Sondermüll entsorgen “u.Ä. vor dem Hintergrund des angesprochenen fehlerhaften Zitats beschimpft hatten.

Das Kammergericht hatte dabei entschieden, dass zwar eine Vielzahl der verunglimpfenden Äußerungen aufs äußerste herabwürdigend seien, sofern in irgendeiner Form noch ein Bezug zur Sachdebatte hergestellt werden könne, seien diese aber von der Meinungsfreiheit gedeckt. Eine Abwägung zum Persönlichkeitsrecht von Frau Künast hat das Gericht dabei nicht vorgenommen.

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Dieser Argumentation des Kammergerichts hat das BVerfG einen Riegel vorgeschoben. Beinahe lehrbuchartig wird in dem Beschluss die Meinungsfreiheit sowie deren Grenzen erläutert. Die Lektüre der Entscheidung [1] lohnt sich in jedem Fall. Daher sollen an dieser Stelle nur maßgebliche Punkte, die insbesondere in einer Prüfung Schwerpunkte darstellen können, erläutert werden.

1. Schmähkritik und Beleidigung im Fall Künast / Facebook

Zunächst erfordert die Prüfung der Meinungsfreiheit, ob nicht in den Äußerungen eine unzulässige Schmähkritik vorliegt. Hierbei ist zu beachten, dass eine Schmähung nicht mit einer Beleidigung gleichzusetzen ist. Das Kammergericht hat dabei entschieden, dass immer noch ein gewisser Sachbezug zur ursprünglichen Debatte, zu der die Facebooknutzer kommentiert hatten, bestünde und daher eine Abwägung zwischen der freien Meinungsäußerung der Nutzer und dem Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin Renate Künast stattfinden müsse. Dem gibt das BVerfG recht, moniert aber zutreffend, dass die Abwägung nicht erfolgte.

„Es [das Kammergericht] legt … einen fehlerhaften, mit dem Persönlichkeitsrecht der von ehrenrührigen Äußerungen Betroffenen unvereinbaren Maßstab an, wenn es annimmt, eine strafrechtliche Relevanz erreiche eine Äußerung erst dann, wenn ihr diffamierender Gehalt so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine.“ (Rn. 43).

Dies bedeutet daher: Die Beleidigung mag zwar eine Meinung sei, wenn sie noch einen Sachbezug aufweist, ist aber trotzdem unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten abzuwägen.

Für die Prüfung gilt: Es muss dargelegt werden, dass eine Schmähkritik von Art. 5 I GG nicht geschützt ist. Eine Schmähkritik liegt vor, wenn Personen durch Äußerungen diffamiert und herabgesetzt werden. Dem Äußernden geht es nicht um eine sachliche Auseinandersetzung zu einem bestimmten Thema an, sondern einzig und allein um die Herabwürdigung einer Person. Dahingegen muss man erläutern, dass bei der Beleidigung noch ein Sachbezug gegeben sein kann, womit der Schutzbereich eröffnet wäre.

2.  Die Abwägung — Meinungsfreiheit vs. Persönlichkeitsrecht

Das Kammergericht hat keine Abwägung vorgenommen. Diese muss aber erfolgen. Nimmt man grundsätzlich an, dass die Meinungsfreiheit immer überwiegt, wenn es nur eine Form des Sachbezuges gibt, dann sieht das BVerfG die Konsequenzen einer fehlenden Abwägung wie folgt:

„[Der Beschwerdeführerin] wird dadurch von vornherein die Möglichkeit genommen, zivilrechtliche Ansprüche wegen einer Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts durchsetzen zu können.“ (Rn. 48).

Maßstäbe der Abwägung sind hierbei mehrere Punkte:

  • In der Abwägung ist die Meinungsfreiheit von umso höherem Gewicht, je mehr ein Beitrag zur Meinungsbildung geleistet werden soll. Umgekehrt ist der Schutz der Meinungsfreiheit umso geringer, je mehr es lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.
  • Es spielt auch eine Rolle, ob eine Machtkritik vorliegt. Der Bürger muss das Recht haben, auch gegen Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise deren Art und Weise der Machtausübung angreifen zu können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden. Wer ein politisches Amt inne hat, muss auch mehr aushalten, so dass: „…die Grenzen zulässiger Kritik an Politikerinnen und Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen“ (Rn. 33)
  • Umgekehrt muss aber für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz des Persönlichkeitsrechts gewahrt sein. Auch wer sich im Politikbetrieb einbringt, muss nicht alles „aushalten“, sondern ist vor öffentlicher Verächtlichmachung oder Hetze geschützt.
  • Für die Abwägung ist ebenfalls die Breitenwirkung der Äußerung wichtig, d.h. wie viele Personen die Aussage zur Kenntnis genommen haben und ob sie irgendwo länger schriftlich festgehalten wurde oder ist.
  • Ebenfalls kommt es darauf an, ob eine Äußerung spontan gefallen ist oder „mit längerem Vorbedacht“. Letzteres meint insbesondere schriftliche Äußerungen, da diese anders als eine mündliche Spontanäußerung, gezielter erfolgen. Für letztere gilt aufgrund der Vorüberlegungszeit ein strengerer Maßstab.

Letzterer Punkt ist für die Prüfung sehr wichtig, da das BVerfG erstmalig Äußerung in sozialen Medien generell in die Kategorie „mit längerem Vorbedacht“ einordnet. Dies erscheint auch zutreffend. Während eine verbale Äußerung schnell getätigt ist (bevor man die Worte abgewägt hat, hat man sie bereits gesprochen), ist dies in sozialen Medien anders.

Facebook, Twitter und Co. müssen erst aufgerufen werden, dann die Kommentarfunktion/ das Kommentarfeld angeklickt werden und dann die Äußerung sowohl geschrieben als auch nochmal bewusst versendet werden. An dieser Bewertung ändert auch die Tatsache, dass ein Kommentar nur einer von vielen ist und vielleicht nur der erste Kommentar viel Aufmerksamkeit erhalten hat, nichts.

Hier kann man beachten und in einer Prüfung festhalten, dass die Meinungsfreiheit schützt, dass man seine Meinung äußern kann, man ist aber nicht besonders geschützt, wenn man sie als erster oder besonders schnell äußert, weil man dadurch mehr Aufmerksamkeit erhält.

Man kann an dieser Stelle also nicht mit der Schnelllebigkeit der sozialen Medien argumentieren und damit, dass diese schnell bespielt werden müssen, um gleich zu Beginn den Ton der Debatte prägen zu können. Am Ende ist der Facebookpost eben deutlich näher an der Schriftform (da man immer Zeit hat, nochmal den Eintrag zu lesen!), als an der mündlichen Spontanäußerung, die man eben nicht mehr „einfangen“ kann.

3. Achtung Klausurfalle: Keine Entscheidung über den Sachverhalt

Das BVerfG hat den Fall zur erneuten Prüfung an das Kammergericht zurückverwiesen. Dies aufgrund des altbekannten Grundsatzes, dass das BVerfG keine Superrevisionsinstanz ist, sondern nur spezifisches Verfassungsrecht prüft. Die Tatsachenfeststellungen und Beurteilungen unterliegen den Fachgerichten. Das BVerfG prüft nur, ob ein Verstoß gegen Verfassungsrecht vorliegt.

Auf diesen Punkt muss man ganz besonders in einer Prüfung achten: Keine Subsumtion unter dem Sachverhalt bzw. keine Sachverhaltsfeststellungen treffen, sondern das Verfassungsrecht prüfen. Das BVerfG hat daher keine eigene Abwägung hinsichtlich der einzelnen Aussagen vorgenommen, sondern „nur“ festgestellt, dass die erforderliche Abwägung durch das Fachgericht unterblieben ist und von diesem daher nachgeholt werden muss.

Hier muss man in Klausuren darauf achten, ob der Sachverhalt dazu verlocken will, tatsächliche Feststellungen zu treffen und dieser „Verlockung“ mit Verweis auf die Prüfung spezifischen Verfassungsrechts durch das BVerfG zu widerstehen.

III. Der Fall Künast und das BVerfG — Fazit

Die scheinbare Anonymität im Netz verleitet leider genug Menschen dazu, Kommentare zu hinterlassen, die nur auf die Herabsetzung der Person gerichtet sind und gar keine inhaltliche Auseinandersetzung wünschen. (Dazu sehr spannend zu lesen: „Hass im Netz: Ich bin der Troll“ von Timo Steppat, FAZ [2]

Das Bundesverfassungsgericht verbietet nicht die Auseinandersetzung, bei der auch harte Worte fallen können, aber – und dies war schon immer in der Debatte um die Meinungsfreiheit enthalten – es gibt Grenzen, die vor allem bei der Schmähkritik aber auch der Beleidigung liegen können. Auch das Internet ist kein rechtsfreier Raum, selbst wenn dies einige immer noch glauben. Die Gier nach Aufmerksamkeit, die durch extreme Aussagen gestillt werden soll, rechtfertigt Schmähungen und Beleidigungen nicht. Egal wie schnelllebig die sozialen Medien sind, anders als bei der verbalen Spontanäußerung, hat man immer noch Zeit, Kommentare zu überdenken.

In diesem Zusammenhang ist mir auch ein Interview mit dem Schauspieler und Musiker Will Smith in Erinnerung geblieben. Auf die Frage, warum er in seinen Rapsongs nicht flucht und Schimpfwörter verwendetet, antwortete er mit einer Anekdote aus seiner Jugend. Seine Großmutter habe sein Notizbuch für seine Songs als Jugendlicher voller Flüche und Schimpfwörter gefunden. Anstelle etwas zu sagen, habe seine Großmutter nur einen Satz reingeschrieben: „Ein intelligenter Mensch braucht diese Wörter nicht um sich auszudrücken.“ Und so sollte auch die Diskussion im Netz sein: Mit diesen Worten im Hinterkopf sollte man seine Argumente darstellen – den jeder Mensch ist intelligent genug, um eine Debatte sachlich zu führen.

Dr. Michael Hoerdt
Autor
Dr. Michael Hördt

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Er war Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. im Arbeitsrecht und für das Irlandgeschäft der Kanzlei zuständig. Aktuell ist er Syndikusrechtsanwalt bei Infosys Limited im Arbeitsrecht in Frankfurt a.M.

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