Civil Law und Common Law – Die Entstehung zweier Rechtskreise

Das Britische Rechtssystem: ein gänzlich anderes als das der Deutschen

Mit dem Ausstieg Englands aus der EU richtete sich das weltweite Interesse wieder verstärkt auf das britische Unterhaus. Besonders mit dem berühmten „Order“ Ausruf des Vorsitzenden des britischen Unterhauses, John Bercow, erreichte die politische Auseinandersetzung der Briten schon jetzt Kultstatus. Doch nicht nur in der Politik der Engländer geht es „heiß her“, auch ihr Rechtssystem ist ein gänzlich anderes als das der Deutschen. 

Was bedeutet Common Law?

Während das deutsche Recht, das Civil Law, auf einem römisch-germanischen Rechtskreis beruht und einen Richter als unabhängiges Organ der Rechtspflege Recht sprechen lässt, beruht das englische Recht auf dem sogenannte Common Law. Dieses stützt sich nicht auf Gesetze, sondern auf Präzedenzfälle. Das Rechtssystem der Engländer fußt damit also auf vielen einzelnen Entscheidungen, die ständig weiterentwickelt und angepasst werden.

Was unterscheidet Civil Law und Common Law?

Doch wie genau haben sich die beiden Rechtskreise entwickelt, und worin bestehen ihre Unterschiede? Das Common Law selbst entwickelte sich ursprünglich in England, genauer im Zeitraum des Mittelalters. Durch verschiedene, in England wohnende germanische Stämme hatten sich während des Mittelalters unterschiedlichste regionale und kulturelle Gewohnheitsrechte bzw. Rechtsordnungen gebildet.

Common Law und Civil Law. Das Rechtssystem der Briten ist ein gänzlich anderes als das der Deutschen.

Diese wurden in den unterschiedlichen Regionen Englands dann zunächst von lokal bestimmten, später von Adligen und Lehnsherren, und zuletzt auch von vom König ausgesandten Reiserichtern gesprochen. Letztere sollten die Gerichtsbarkeit zunehmend übernehmen und die Rechtsprechung- und Setzung somit in letzter Instanz wieder dem König zuführen.

Funktionsfähige Zentralgerichte und Entstehung von Writs

Aus der Entscheidungspraxis eben dieser gesandten Richter entwickelte sich so nach und nach ein in ganz England geltendes Recht. Im Laufe der Zeit entstanden dabei auch funktionsfähige Zentralgerichte, welche die Justiz weiter vereinheitlichten und diese beim König bündelten. Dessen rechtliches Handeln war geprägt durch sogenannte Writs, einer Art von Klageschriften, die von seinen Justizbeamten ausgestellt werden konnten und Streitgegenstand und Beklagten nannten und letzteren zu einer Verhandlung luden.

Um immer wiederkehrende Sachverhalte zu vereinfachen, entwickelten sich bald standarisierte Writs, auf die der Beklagte antworten konnte und die das Verfahren maßgeblich vereinheitlichen und prägen sollten. Trotz der fortlaufenden Entwicklung dieser Writs galt der Prozessverlauf damals als noch immer zu stark formalisiert und wenig auf Besonderheiten eingehend, weshalb sich Kläger und Beklagte zunehmend mit Bittgesuchen an den König wandten.

Common Law: Wie enstanden Court of Chancery, High Court und Supreme Court?

Um der Fülle an Bitten gerecht zu werden, entwickelte sich im 15. Jahrhundert ein neues Gericht, das Court of Chancery. In diesem urteilte ein vom König befugter Kanzler über individuelle Streitigkeiten und setzte aufgrund seiner durch den König gegebenen unangreifbaren Position nach und nach geltendes Recht für alle unteren Gerichte.

In den nächsten Jahrhunderten entwickelte und passte sich das Common Law aufgrund zahlreicher Reformen weiter an, bis schließlich das Court of Chancery in einen einheitlichen High Court eingegliedert wurde, welcher alle wichtigen und bedeutenden Entscheidungen, besonders des Zivilrechts, treffen durfte. Seit 2005 unterliegt dieser dem sogenannten Supreme Court of the United Kingdom, der obersten Instanz für das Vereinigte Königreich.

Wie entstand das Civil Law?

Ganz anders und noch viel mehr kulturellen Einflüssen ausgesetzt entwickelte sich das Civil Law, auf dessen Grundlage auch das deutsche Recht gelehrt und ausgeübt wird. Geprägt und entstanden ist das sogenannte Civil Law aus dem römischen Recht, welches sich im Rahmen der Ausdehnung des Heiligen Römischen Reiches auch über Deutschland hinweg erstreckte und ganz Europa prägte.

Im Gegensatz zu vielerlei Erfindungen, die die Römer von den Griechen übernahmen, ist das römische Recht wohl tatsächlich allein von den Römern entwickelt worden und fand seine kodierten Wurzeln bereits rund 500 vor Christus.

Während – wie auch in England –  vor der Festlegung einzelner Gesetze das Gewohnheitsrecht das tragende Rechtsprinzip der Römer war, entstand rund 450 vor Christus der Wunsch, das Rechtswesen für die Bevölkerung zugänglicher zu machen. Grund dafür waren zunehmende Machtkämpfe zwischen der Oberschicht und dem einfachen Volk der römischen Republik, welches Recht nicht mehr nur von der damaligen Priesterschaft gesprochen haben wollte, sondern auch ein Verständnis für die Entscheidungen bekommen wollte.

Was ist das Zwölftafelgesetz?

Mit dem Zwölftafelgesetz wurde rund 450 vor Christus zur Erhöhung der Rechtssicherheit das staatliche Recht erstmals niedergeschrieben und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieses bestand zunächst aus verschiedenen Rechtsquellen und Gewohnheitsrecht und beinhaltete überwiegend Privatrechtsmaterien, welches das römische Recht prägten. 

Einmalig und auch heute noch in unserem Recht zu finden, ist dabei die zunehmende Entwicklung von zivilrechtlichen Grundlagen wie Besitz und Eigentum, deren Wurzeln auch rund 500 nach Christus in einem Werk, dem Corpus iuris civilis, festgelegt wurden. Sie sind bis im deutschen Recht zu finden.

Römisches Recht – Corpus Iuris Civilis

Das Corpus Iuris Civilis war ein besonderer Meilenstein in der Geschichte des römischen Rechts. Hier ist zu erkennen, dass die römischen Herrscher schon früh die Notwendigkeit erkannten, die Vielzahl von Rechtsquellen ihres Reiches und dort gewonnenen Erkenntnisse in einem Gesamtwerk zusammenzufassen, um so Klarheit zu schaffen. Dieses Rechtswerk wurde dabei über Jahrhunderte hinweg zur Grundlage des gesamten Imperiums. Urteile wurden aufgrund des Gesetzestextes und ebendieser Interpretation des Gesetzestextes gefällt.

Römisches und Germanisches Recht im 16. Jahrhundert

Vor allem im 16. Jahrhundert wurde das römische Privat- und Prozessrecht auch in Deutschland aufgenommen, wo es gemeinsam mit Einflüssen des germanischen Rechts und mittelalterlichen Entwicklungen die Grundlage für unser heutiges Recht legte. Seinen Einflussbereich hat das Civil Law jedoch nicht nur bis heute in Deutschland, sondern in ganz Kontinentaleuropa, aber auch Lateinamerika, Schottland, Afrika und anderen Weltgegenden.

Präzedenzfall

Ein Präzedenzfall ist ein juristischer Fall, dessen Urteil als Maßstab für ähnliche Fälle dient. Dies ist besonders relevant im anglo-amerikanischen Rechtssystem (Common Law), wo frühere Gerichtsentscheidungen (Stare decisis) die Basis der Rechtsprechung bilden und niedrigere Gerichte an Präzedenzfälle gebunden sind (Binding precedents).

Im Gegensatz dazu steht der kontinentaleuropäische Rechtskreis, der dem „Legizentrismus“ folgt, also dem Vorrang des Gesetzes vor der Rechtsprechung. Hier sind Richter an Gesetze gebunden und nicht an Entscheidungen anderer Gerichte. In Deutschland werden solche Fälle eher als Grundsatzentscheidungen bezeichnet, und andere Gerichte sind nicht an diese gebunden, außer in bestimmten Fällen des Bundesverfassungsgerichts.

Präzedenzfälle beeinflussen auch das staatliche Verwaltungshandeln, indem sie zum Maßstab für zukünftiges Handeln werden, insbesondere bei Ermessensentscheidungen, die gerichtlich Bestand hatten. In der Schweiz wird sowohl Gewohnheitsrecht als auch Richterrecht als Rechtsquelle anerkannt.

Civil Law und Common Law – Wie unterscheidet sich die Rechtsprechung?

So konnten sich historisch bedingt, einerseits aufgrund weitgehender politischer Stabilität in England und andererseits aufgrund unterschiedlichster politischer Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent, zwei Rechtssysteme entwickeln, die bis heute auf der ganzen Welt präsent sind.

Neben ihrer Unterscheidung zwischen Rechtsprechung auf kodifiziertem Recht und solcher auf Präzedenzfällen unterscheiden sich die Systeme jedoch auch grundlegend in ihrer Denkstruktur.

Während deutsche Jurist:innen vom Allgemeinen auf das Besondere schließt, müssen englische Jurist:innen sich von einem außergewöhnlichen Fall zum anderen hangeln, um eine vergleichbare Situation zu finden. Dies bietet zwar eine höhere Flexibilität in den Entscheidungen, da sich eben nicht an Strukturen von Gesetzen gehalten werden muss, verliert aber andererseits die Sicherheit, die klare Gesetzesstrukturen bieten.

Beide Strukturen lassen sich jedoch erst mit einem umfassenden Blick auf ihre geschichtliche Entwicklung verstehen und nachvollziehen und bieten so jeweils einmalige und historisch bedingte Vor- und Nachteile.

Deshalb wird auch heute und gerade im Hinblick auf eine zunehmende Überlappung von Rechtssystemen, wie sie durch internationalen Handel aber auch durch das ansteigende Entstehen von Investitionsschutzabkommen zu beobachten sind, die Fähigkeit, sich in beiden Rechtssystemen zurecht zu finden, immer wichtiger.

Besonders für angehende Juristinnen und Juristen lohnt es sich daher, einen Blick auf beide Systeme zu werfen und so ein kontinentalübergreifendes Verständnis für die Rechtsprechung in verschiedenen Ländern zu erlangen.

Isabella von Kempski
Autorin
Isabella von Kempski

Isabella von Kempski, studiert an der Universität Heidelberg Jura. Neben der Uni ist sie Mitglied bei studentischen Zeitschriften der Universität Heidelberg und spielt Hockey im Verein.

Civil Law und Common Law – Das Wichtigste in Kürze

  • Britisches Unterhaus im Fokus nach Brexit: Erhöhtes internationales Interesse am britischen Unterhaus und Kultstatus des „Order“ Ausrufs von John Bercow.
  • Common Law vs. Civil Law: Das britische Rechtssystem basiert auf Common Law (Präzedenzfälle) im Gegensatz zum deutschen Civil Law (römisch-germanischer Rechtskreis).
  • Entwicklung des Common Law: Ursprung im Mittelalter in England, geprägt durch regionale Gewohnheitsrechte und Entscheidungen von Reiserichtern.
  • Zentralgerichte und Writs: Bildung von Zentralgerichten in England und Entwicklung von Writs (Klageschriften) zur Vereinfachung wiederkehrender Sachverhalte.
  • Court of Chancery, High Court, Supreme Court: Entstehung des Court of Chancery im 15. Jahrhundert, später Einbindung in den High Court und Unterstellung unter den Supreme Court seit 2005.
  • Entstehung des Civil Law: Geprägt durch das römische Recht, Ausbreitung in Deutschland und Europa, Basis des heutigen deutschen Rechts.
  • Zwölftafelgesetz und Corpus Iuris Civilis: Kodifizierung des römischen Rechts im Zwölftafelgesetz und im Corpus Iuris Civilis, Einfluss bis heute.
  • Vereinigung römischen und germanischen Rechts: Im 16. Jahrhundert in Deutschland, Basis für das moderne Civil Law.
  • Präzedenzfall und Rechtsprechung: Im Common Law basiert die Rechtsprechung auf Präzedenzfällen, während im Civil Law der Vorrang des Gesetzes gilt.
  • Unterschiedliche Rechtsdenkstrukturen: Im deutschen Recht Anwendung von allgemeinen Prinzipien auf spezifische Fälle, im englischen Recht flexibler Umgang mit Einzelfällen.
  • Bedeutung für angehende Jurist:innen: Wichtigkeit, sich in beiden Rechtssystemen auszukennen, insbesondere im Kontext der Globalisierung und internationalen Handels.