
Koalitionsverträge zwischen Recht und Politik: Ein Überblick zur Einordnung
Obwohl Koalitionsverträge politische Leitlinien setzen, fehlt jede rechtliche Bindung. Wer sie als Gesetz liest, versteht weder ihre Grenzen noch ihre Wirkung – ein häufiger Irrtum.
Koalitionsverträge – Wie sind sie rechtlich einzuordnen?
Historischer Rückblick: Vom New Deal zur politischen Geduld
In den 1920iger Jahren hielt eine Weltwirtschaftskrise die Welt in Atem. Der Black Thursday am 24. Oktober 1924 wurde zum Synonym für wirtschaftliche Verwerfungen, die die Welt noch nicht erlebt hatte. Nach seinem Amtsantritt im Jahr 1933 als US-Präsident bat Franklin D. Roosevelt um 100 Tage Zeit, in denen sein Reformprogramm, der sog. New Deal Wirkung entfalten sollte. Erst dann sollte eine Beurteilung der Maßnahmen erfolgen.
Koalitionsvertrag 2025 unter öffentlicher Kritik in sozialen Netzwerken
Die 100er Tage sind seitdem die gängige Zeitspanne, nach der eine erste Einordnung der Arbeit von Regierungen erfolgt. Doch mit den sozialen Netzwerken hat sich einiges geändert – nunmehr kann zu jeder Zeit praktisch jeder Mensch die aktuellen Entwicklungen kommentieren. Nachdem nach der Bundestagswahl im Februar 2025 wieder nach einer Koalition aus CDU/CSU und SPD aussieht, wurde bereits der erste Entwurf des Koalitionsvertrages öffentlich diskutiert und von allen Seiten zerrissen.
Die Koalition sei mit diesem Vertragswerk bereits zum Scheitern verurteilt. Schonfristen oder gar ein Abwarten, dass die Regierung überhaupt erst ins Amt kommt, erlauben soziale Netzwerke nicht. Viel zu groß ist die Lust am Drama.
Rechtliche Wirkung von Koalitionsverträgen bleibt oft unbeachtet
Dabei bleibt oft unbeachtet, welche Wirkung ein Koalitionsvertrag in rechtlicher Hinsicht hat. Genau diese Einordnung hilft aber, Koalitionsverträge und deren Entstehung besser zu verstehen. Schauen wir uns diese Aspekte also einmal etwas genauer an.

Jobmessen Jura
Karrieremessen von IQB & Myjobfair
Unsere Jobmessen & Karrieremessen für Juristen finden als Präsenzveranstaltung oder online statt und bieten Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteigern die ideale Orientierung in Sachen Karrierechancen.
Koalitionsverträge – erst unbekannt, dann detailliert
Entstehung der ersten Koalitionsverträge auf Bundesebene
Koalitionsverträge sind ein relativ neues Phänomen. Der erste Koalitionsvertrag auf Bundesebene wird generell im Jahr 1961 zwischen CDU/CSU und FDP verortet [1]. Bis dahin gab es auf Bundesebene keine vergleichbaren Vereinbarungen. Der erste Koalitionsvertrag ist relativ knapp gefasst und enthält in erster Linie Grundsätze für Gesetzesvorhaben und das Handeln in der Koalition. In den Jahrzehnten danach verlor das Instrument aber zunächst wieder an Bedeutung.

Jura Examen
Jura Klausuren und Prüfungsthemen
Klausurrelevante Themen für Jurastudierende haben wir unter dem Schlagwort „Jura Prüfungsthemen“ für euch gebündelt.
Von 10 auf 250 Seiten: Der Wandel der Koalitionsverträge seit den 1990ern
In den 1990ern und in den Jahren unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel sowie in den folgenden Koalitionen wurden Koalitionsverträge allerdings immer detaillierter und umfangreicher. Um die Dimension darzustellen: 1961 umfasste der Koalitionsvertrag nicht einmal 10 Seiten, 1998 waren es knapp 50 Seiten, während der aktuelle Koalitionsvertrag fast 250 Seiten stark ist. [2],[3]
Der erhöhte Umfang bedeutet natürlich auch eine detaillierte Ausarbeitung der Verträge. Die Koalitionsparteien vereinbaren in dem Dokument ihre Vorhaben für die kommende Legislaturperiode und teilweise auch wie diese umgesetzt werden sollen.
Hinsichtlich der Bedeutung in rechtlicher Hinsicht muss man vorsichtig sein – schließlich unterliegen die Entscheidungen Abgeordneter grundsätzlich nur Ihrem Gewissen. Schränkt ein Koalitionsvertrag diese Entscheidungsfreiheit ein?

Jura Examen & Prüfungen
Themenschwerpunkt Jura-Examen
Schwierige Hürde oder schaffbare Herausforderung? Man kann die Examen in Jura so oder so sehen. Sicher ist: für alle Studierenden sind die Vorbereitungen auf diese Prüfungen eine ganz besonders intensive Zeit. Deshalb bieten wir Euch hier spannende Artikel rund um das große Finale des Studiums.
Einschränkung der Rechte der Staatsorgane?
Koalitionsvertrag als parteipolitisches Abkommen – nicht zwischen Staatsorganen
Geschlossen wird der Koalitionsvertrag zwischen den Parteien und Fraktionen, deren Abgeordnete die Regierung zukünftig stützen sollen. Aktuell also von der CDU/CSU und der SPD, In der Legislaturperiode zuvor waren Vertragspartner SPD; Bündnis 90/ Die Grünen und die FDP.
Rechtliche Bedenken: Einschränkung von Richtlinienkompetenz und Abgeordnetengewissen?
Einwenden könnte man gegen eine Bindungswirkung einer Koalitionsvereinbarung, dass diese die Abgeordneten und die vom Grundgesetz vorgesehenen Organe in nicht zulässiger Weise einengt. So könnte z.B. argumentiert werden, dass Friedrich Merz als wahrscheinlich zukünftiger Kanzler in seiner Richtlinienkompetenz eingeengt wäre.
Schließlich mag er sich an den Koalitionsvertrag gebunden fühlen, auch wenn diese Kompromisse enthält, die er nicht zu 100% trägt. Gleiches kann für einzelne Abgeordnete gelten, die im Bundestag entgegen ihrer eigenen Überzeugung abstimmen, weil sie sich an den Koalitionsvertrag gebunden fühlen.
Politische Bindung versus Verfassungsrecht
Hiergegen sprechen aber zwei Punkte. Zum einen wird der Koalitionsvertrag zwischen den Parteien geschlossen und nicht etwa zwischen oder mit den Staatsorganen oder zwischen den Abgeordneten, zum anderen wird die Richtlinienkompetenz nach Art. 65 GG bloß faktisch ausgestaltet. Eine Beschränkung der Richtlinienkompetenz geht damit nicht einher.
Friedrich Merz kann diese genauso handhaben wie vor ihm Olaf Scholz und Angela Merkel. Eine politische Bindungswirkung ist keine Beschränkung, die die Richtlinienkompetenz aushebelt. Ebenso sind die Abgeordneten frei und nur ihrem Gewissen unterworfen. Ein Koalitionsvertrag nimmt dahingehend keine Einschränkung vor, denn das würde gegen das Grundgesetz zu verstoßen.
Fraktionsdisziplin als demokratische Praxis – mit Ausnahmen
Es ist eine Tatsache, dass in den meisten Fällen entlang von Fraktionslinien abgestimmt wird. So werden die Mehrheiten im Parlament erhalten, was dem Wesen der Demokratie entspricht. Schließlich kommt es in der parlamentarischen Demokratie darauf an, Mehrheiten zu finden und zu organisieren, das bedeutet, dass bei fehlender Mehrheit Kompromisse notwendig sind.
Der Koalitionsvertrag dient dazu, diese notwendigen Kompromisse zu finden. Dennoch können Abgeordnete weiterhin frei abstimmen und auch gegen die Regierungslinie. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte in der letzten Legislaturperiode das Stimmverhalten von Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) für die Tauruslieferung an die Ukraine gewesen sein. Als Mitglied einer Regierungsfraktion hat sie gegen die Regierungslinie gestimmt.
Planungsunsicherheit und politische Realität begrenzen Koalitionsverträge
Der Koalitionsvertrag kann also nur Leitlinien für das Verhalten der Koalitionspartner vorgeben. Das ist auch sinnvoll, da eine genaue Planung für vier Jahre angesichts der Dynamiken in der Welt praktisch unmöglich ist. Wer konnte schon die verschiedenen Krisen, die seit 2008 aufgezogen sind, voraussehen.
Dies hat oft zur Folge, dass bestimmte Vorhaben aus einem Koalitionsvertrag von der Realität eingeholt und nicht oder zumindest nicht wie geplant umgesetzt werden können.

Berufsbilder
Sinnvolle Berufe für Juristen
Juristen finden sinnstiftende Berufe in NGOs, Umweltschutz oder Politik. Wer sich rechtzeitig spezialisiert oder engagiert, sichert sich „Good Jobs“ mit Einfluss.
Rechtsnatur und Durchsetzbarkeit des Koalitionsvertrags
Koalitionsvertrag als politische Absprache ohne Rechtsbindung
Aus dem Vorangegangenen wird nun auch die Rechtsnatur eines Koalitionsvertrages deutlich. Anders als der Begriff „Vertrag“ vermuten lassen mag, liegt nämlich kein rechtlich verbindlicher Vertrag vor. Vielmehr handelt es sich in erster Linie um politische Absprachen, die lediglich eine politische Bindung zur Folge haben.
Eine Bindung der Staatsorgane an eine Koalitionsvereinbarung würde wie bereits ausgeführt gegen das Grundgesetz verstoßen und wäre damit verfassungswidrig. Gegen einen rechtlich verbindlichen Vertrag spricht hierbei auch der fehlende Rechtsbindungswillen. Das Fehlen eines Rechtsbindungswillens ist bereits daran erkennbar, dass die Parteien keine Sanktionen für Verstöße vorsehen.
Keine gerichtliche Durchsetzbarkeit des Koalitionsvertrags
Demzufolge ist ein Koalitionsvertrag auch rechtlich nicht durchsetzbar. Vor den Verwaltungsgerichten kann kein Rechtsschutz bei einem Verstoß erlangt werden, da der Inhalt des Koalitionsvertrages verfassungsrechtlicher Natur ist. Schließlich werden dort Voraussetzungen für u.a. die Bestellung von obersten Bundesorganen geregelt, wie z.B. die Besetzung der Kabinettsposten.
Keine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht möglich
Vor dem Bundesverfassungsgericht ist aber auch keine Klagemöglichkeit bei einem Verstoß gegen den Koalitionsvertrag gegeben. Einzig denkbares Verfahren, wäre das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 63ff. BVerfGG. Das Organstreitverfahren scheitert bereits an der Antragsbefugnis einer der Parteien der Koalitionsvereinbarung.
Die politischen Parteien sind Vertragspartner und müssten im Streitfall jeweils geltend machen, dass eine Verletzung des Parteienprivilegs aus Art. 21 GG vorliegt. Durch eine bloße Nichteinhaltung des Koalitionsvertrages durch die andere Partei ist eine solche Verletzung aber nicht gegeben.
Politische Konsequenzen bei Vertragsbruch
Konsequenzen eines Verstoßes gegen den Koalitionsvertrag zeigen sich dann auch praktisch. Dies kann fehlendes Vertrauen der Wähler sein, das sich im nächsten Wahlergebnis niederschlägt, und/ oder der Koalitionsbruch und veränderte Mehrheiten oder Koalitionen nach der nächsten Wahl.

Legal Tech
Themenschwerpunkt
Legal Tech
Wir werfen einen Blick auf die wichtigsten Themen rund um Legal Tech und Informationstechnologie im Arbeitsalltag von Juristinnen und Juristen.
Abschließende Gedanken
Ein Koalitionsvertrag gibt aufgrund seiner Natur als politische Absprache natürlich eine Richtung für die Legislaturperiode vor. Aber wenn man den Koalitionsvertrag liest, zeigt sich, dass er vor allem Absichtserklärungen enthält, deren politische Realisierung nicht im Detail geplant werden kann. Kritisieren darf man Koalitionsverträge natürlich, gerade auch dafür, dass Themen wie z.B. der Wohnungsbau viel zu kurz kommen.
Dennoch sollte man den Koalitionsparteien auch erstmal die Chance geben, tätig zu werden – unabhängig davon, ob man sie gewählt hat oder nicht. Den Abgesang auf eine Regierung einzuleiten, dei noch nicht einmal im Amt ist, ist verfrüht und wohl in erster Linie dem Zeitgeist und dem Verlangen nach (politischem) Drama geschuldet.
Klar ist aber auch, dass die Koalitionäre liefern müssen. Denn angesichts der weltweiten Entwicklungen und der aktuellen Umfragen steht viel auf dem Spiel. Aber das Ergebnis lässt sich nicht an einem Koalitionsvertrag festmachen, sondern an der politischen Arbeit.

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Nach Stationen als Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. für Arbeitsrecht und das Irlandgeschäft der Kanzlei und anschließend als Syndikusrechtsanwalt bei einem indischen IT-Konzern ist er aktuell als Assistant General Counsel EMEA Legal HR bei Elanco tätig.
Die Ansichten in seinen Beiträgen sind seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die des Unternehmens wider.
Das Wichtigste in Kürze – Koalitionsverträge rechtlich erklärt
- Bereits vor Amtsantritt der neuen Regierung 2025 wurde der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD heftig kritisiert. Die Dynamik der sozialen Medien beschleunigt dabei öffentliche Vorverurteilungen.
- Koalitionsverträge sind ein vergleichsweise junges Instrument auf Bundesebene. Der erste wurde 1961 zwischen CDU/CSU und FDP geschlossen und war eher allgemein gehalten.
- In den 1990ern und besonders unter Kanzlerin Merkel wurden die Verträge deutlich umfangreicher. Der aktuelle Vertrag umfasst fast 250 Seiten, was eine detailliertere Planung politischer Vorhaben ermöglicht.
- Trotz dieser Ausführlichkeit bleibt unklar, wie der Vertrag rechtlich einzuordnen ist. Besonders hinsichtlich der Bindung von Abgeordneten gibt es immer wieder Missverständnisse.
- Koalitionsverträge werden zwischen Parteien und Fraktionen geschlossen, nicht zwischen Staatsorganen oder einzelnen Abgeordneten. Daraus ergibt sich keine rechtliche, sondern lediglich eine politische Bindung.
- Es wird argumentiert, dass ein Kanzler wie Friedrich Merz durch den Vertrag in seiner Richtlinienkompetenz eingeschränkt wäre. Diese Kompetenz bleibt jedoch gemäß Artikel 65 GG unangetastet.
- Auch Abgeordnete sind weiterhin nur ihrem Gewissen unterworfen. Der Koalitionsvertrag darf und kann diesen verfassungsrechtlichen Grundsatz nicht aushebeln.
- Die Abstimmung entlang der Fraktionslinie ist eine politische Praxis zur Mehrheitsbildung. Dennoch bleibt ein freies Abstimmungsverhalten der Abgeordneten rechtlich möglich.
- Ein bekanntes Beispiel für ein Abweichen von der Fraktionslinie war die Unterstützung der Tauruslieferung an die Ukraine durch Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Dies zeigt, dass politische Spielräume auch gegen die Regierungslinie genutzt werden können.
- Koalitionsverträge setzen Leitlinien, ersetzen aber keine exakte Legislaturplanung. Politische Ereignisse wie Wirtschaftskrisen können geplante Maßnahmen schnell überholen.
- Die Rechtsnatur des Koalitionsvertrages ist rein politisch, nicht juristisch. Es handelt sich um Absichtserklärungen ohne rechtliche Verbindlichkeit oder Sanktionsmöglichkeiten.
- Weder vor Verwaltungsgerichten noch vor dem Bundesverfassungsgericht ist der Vertrag einklagbar. Auch ein Organstreitverfahren scheitert an fehlender Antragsbefugnis.
- Ein Verstoß gegen den Koalitionsvertrag bleibt politisch folgenreich. Er kann das Vertrauen der Wähler beschädigen und künftige Koalitionen beeinflussen.
- Letztlich ist der Koalitionsvertrag ein politisches Instrument zur Organisation von Mehrheiten und Vorhaben. Seine Wirkung hängt nicht von juristischer Durchsetzbarkeit, sondern von politischer Umsetzung ab.
Quellen & Weblinks
- [1] 20. Oktober 1961 Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP | kas.de
- [2] Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die GRÜNEN Bonn, 20. Oktober 1998 | fes.de
- [3] Verantwortung für Deutschland Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 21. Legislaturperiode | spd.de
Juraportal
Spannende Jobs und Praktika findest du im Juraportal, dem Stellenmarkt für Juristinnen und Juristen
Stellenmarkt JuraKommende Jura Events
Fakultätskarrieretag Tübingen Jura
Fakultätskarrieretag Hamburg Jura
Fakultätskarrieretag Hannover Jura
F.A.Z. Einspruch – Podcast mit Publikum
Fakultätskarrieretag Bonn Jura
Alle Events anzeigen
Fakultätskarrieretag Jura Hannover


Karriereziel Jura – Follow us on Instagram

Karrieremesse Jura Hamburg 7.+8. Mai 2025

Karrieremessen Jura
Unsere Jobmessen für Juristinnen und Juristen finden als Präsenzveranstaltung oder online statt.
Jobmessen für Juristen