Originalism und der Supreme Court – Historie und das Erbe Trumps

Originalism und der Supreme Court – eine Gefahr für die Bürgerrechte (Teil 1 von 3)

Unser Karrieremagazin-Autor Dr. Michael Hördt wirft in einer Artikelserie einen Blick auf die Geschichte des Supreme Courts und auf die Bedeutung der jüngsten Entscheidungen für die amerikanische Rechtsauslegung, aber auch für die Gesellschaft. Teil 1 beschäftigt sich mit der Historie, in Teil 2 wird die Auslegungspraxis der Originalismus diskutiert und Teil 3 befasst sich mit der Bedeutung von Präzedenzfällen.

Die USA – Land der Widersprüche

Die USA sind ein großartiges Land mit einer im Vergleich zu anderen Nationen vielleicht kurzen, aber nicht weniger spannenden Geschichte. Ich selbst bin u.a. in Boston den Spuren Paul Reveres gefolgt, habe in Philadelphia die Liberty Bell gesehen, bin in Richmond an der St. John’s Episcopal Church gewesen und habe in Yorktown das Schlachtfeld des Sieges der amerikanischen Revolutionäre über die britische Armee besichtigt.

Gerade die Zeit der amerikanischen Revolution hat es mir persönlich angetan. So hängt neben der irischen Unabhängigkeitserklärung von 1916 auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bei mir zuhause an der Wand.

Es ist aus meiner Sicht eine unglaubliche Epoche der Geschichte, in der eine Nation unter höchsten Idealen der Freiheit geboren wurde, die mittlerweile seit fast 250 Jahren als Republik besteht und allen Widrigkeiten getrotzt hat.

Es ist aber auch eine Epoche, die die Widersprüche und Schwierigkeiten aufzeigt, die eine Nation, die unter höchsten Idealen gegründet wurde, begleiten.

So war das Land der Freiheit auch das Land mit der Sklaverei, bis ca. 80 Jahre später der Bürgerkrieg diese beendete. Dennoch empfinde ich trotz dieser Widersprüche die Epoche der amerikanischen Revolution spannend und vor allem die in Unabhängigkeitserklärung und Verfassung niedergelegten Ideale absolut inspirierend.

Der geneigte Leser mag sich nun aber fragen, was hat diese Einleitung mit der aktuellen Interpretation der US-Verfassung durch den Supreme Court zu tun? Mehr als es zunächst den Anschein hat.

Der (aktuell) vom Originalismus geprägte Supreme Court

Der US-Supreme Court wird immer konservativer, wenn nicht sogar reaktionärer. Gerade die unglückselige Amtszeit von Donald Trump fiel in eine Zeit, in der er mit Unterstützung der republikanischen Mehrheit im Senat die Möglichkeit hatte, drei der neun Richterposten am höchsten US-Bundesgericht neu zu besetzen. Und er nutzte diese Chance durch die Ernennungen von Amy Coney Barrett, Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh.

Richter, die von sich selbst behaupten, dass sie gegen „judicial activism“ sind und zu den Originalisten englisch „originalists“ gezählt werden. Die Mehrheitsverhältnisse verschoben sich zu 6 zu 3 zu Richtern die als konservativ gelten.  Allen drei von Trump ernannten Richtern ist gemein, dass sie relativ jung sind und, aufgrund der Ernennung der Supreme Court Richter auf Lebenszeit, die Rechtsprechung des Gerichts voraussichtlich lange prägen werden. Daher wird auch oft kommentiert, dass dies ein langanhaltendes Vermächtnis der Präsidentschaft von Trump ist und eine liberale Ära der Bürgerrechte erstmal ausgeschlossen sein wird.

Diese Befürchtung wird meines Erachtens leider aktuell bestätigt. Die Entscheidungen des Supreme Court in jüngster Zeit machen aus meiner Sicht Sorgen. Sie zeigen eine gefährliche Tendenz zu einem Supreme Court, der rechtlich und politisch eine Agenda verfolgt, in die die Mehrheit des Volkes den Umfragen zufolge kein Vertrauen hat.

Vorläufiger Höhepunkt in der Wahrnehmung der stark geänderten Supreme Court Rechtsprechung war die Aufhebung der Entscheidung Roe v. Wade. Ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung, welches Roe v. Wade noch anerkannt hatte, existiert nach der Entscheidung Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization laut der Mehrheit der Richter nicht mehr.

Eine Folge der Entscheidung, neben den direkten Auswirkungen auf die Möglichkeit, einen legalen und ärztlich begleiteten Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, ist die Befürchtung, dass viele weitere Entscheidungen des Supreme Courts aus der Vergangenheit aufgehoben werden.

Supreme Court Richter Clarence Thomas hat dies bzw. eine Überprüfung vieler ehemaliger Urteile in seiner Entscheidungsbegründung Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization bereits angekündigt.

Man muss damit rechnen, dass Klagen in den genannten Bereichen bald das Gericht erreichen, so dass der Ankündigung Taten folgen können. Dazu gehören Entscheidungen wie die Verfassungsmäßigkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe oder auch die Abgabe von Verhütungsmitteln.

Doch was ist die juristische Lehre hinter den jüngsten Entscheidungen des Supreme Courts, woher kommen die z.T. extremen Ansichten, wieso sind plötzlich viele Rechte von Frauen und Minderheiten (aber nicht nur von diesen) gefährdet und warum ist bereits die Auslegungsmethodik des Originalismus (Englisch: „Originalism“) aus meiner Sicht falsch?

Der Supreme Court – leuchtendes Beispiel und gravierende Fehlentscheidungen

Bevor wir auf die oben genannten Fragen eingehen, sollen kurz ein paar Episoden der Geschichte des Supreme Courts dargestellt werden. Die Geschichte des Supreme Court ist, ebenso wie die der USA, von hohem Idealismus und einigen Widersprüchen geprägt.

Die Judikative als dritte Gewalt wurde von vielen der „Founding Fathers“, den Gründungsvätern der USA, durchaus kritisch gesehen. Das Prinzip der „judicial review“, also der (verfassungs)richterlichen Überprüfung von Gesetzen war keineswegs „automatisch“ in der Verfassung angelegt, noch ein selbstverständliches Prinzip für die Gründungsväter. Vielmehr war es heftig umstritten. So gab es Stimmen, die eine Gleichordnung der Gewalten annahmen, sodass jede Gewalt ihre Akte selbst auf Verfassungsmäßigkeit hätte überprüfen müssen. Zu diesen Stimmen gehörte u.a. James Madison, der u.a. als der Architekt der US-Verfassung gilt.

Erst der berühmte Fall Marbury v. Madison bejahte das Prinzip der „judicial review“ und etablierte es in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zwar werden einige der Argumente kritisch gesehen und auch das heute wohl als „Kunstgriff“ empfundene Prüfen der materiellen Rechtmäßigkeit vor der Zuständigkeit (da der Supreme Court sich in dem Fall als tatsächlich unzuständig ansah) mag heutzutage ein Stirnrunzeln hervorrufen.

Für die Verfassungsgerichtsbarkeiten weltweit stellt aber die Grundaussage der Entscheidung ein leuchtendes Beispiel dar, welches immer wieder als Vorbild genommen wird. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ausdrücklich festgehalten, dass die Gerichte Akte der Legislative und der Exekutive überprüfen können.

Doch der Supreme Court hat auch in seiner Geschichte furchtbar falsche und untragbare Entscheidungen gefällt, die nicht als leuchtendes, sondern nur als abschreckendes Beispiel dienen können. So wurde Menschen afro-amerikanischer Herkunft in Dred Scott v. Sandfort im Jahr 1856/57 abgesprochen, jemals ein Bürger der USA werden zu können.

In einer vor Rassismus triefenden und heute undenkbaren Sprache wird festgehalten:

“… as beings of an inferior order, and altogether unfit to associate with the white race, either in social or political relations; and so far inferior, that they had no rights which the white man was bound to respect; and that the negro might justly and lawfully be reduced to slavery for his benefit.”

Das Gericht ging sogar noch weiter. Die Präambel der US-Verfassung würde sich nur auf weiße Amerikaner beziehen, wie sich aus dem Textverständnis ergeben würde.  

Daraus schloss der Supreme Court, dass die Bürgerrechte nur weißen und nicht etwa afro-amerikanischen Amerikanern zustehen könnten.

Rassismus – Teil der amerikanischen Verfassung?

Übersetzt war Rassismus nach dieser Entscheidung also Teil der amerikanischen Verfassung. Ein Urteil, das zu Recht bis heute als die schwärzeste Stunde der US-Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen wird, sowohl in der sprachlichen Gestaltung als auch im furchtbaren Inhalt.

In der Folge ergingen weitere Entscheidungen, die nicht tragbar waren; Man denke nur an Plessy v. Ferguson, wo der Grundsatz „separate, but equal“ festgeschrieben wurde, der faktisch nichts anderes als eine weitere Diskriminierung der afro-amerikanischen Bevölkerung zur Folge hatte.

Zwar verwendete der Supreme Court eine nicht ganz so offensichtliche rassistische Sprache wie im zuvor genannten Urteil, aber die Wirkung war fast genauso verheerend.

Man muss aber festhalten, es gab dennoch auch sehr viele Lichtblicke in der Geschichte der Entscheidungen des Supreme Courts, die zurecht als Sternstunden für die Bürgerrechte gelten. Zu diesen Entscheidungen, zählt bspw. in jüngerer Zeit das Urteil zum verfassungsrechtlichen Schutz der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Die Urteile, die die Bürgerrechte stärkten und schützten waren differenzierende Entscheidungen, die aber die Grundsätze, Prinzipien und Ideale der US-Verfassung mit Leben erfüllten.

Doch es besteht die Sorge, dass viele dieser Urteile aufgehoben werden. Der erste Schritt wurde nun mit der jüngsten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch getroffen, weitere sollen, wie von Richter Thomas angekündigt, folgen. Begründet wird dies mit der Auslegungsmethode des Originalismus, die nach den konservativen Richtern die einzige Auslegungsmethode wäre, die von den Gründungsvätern vorgesehen wäre und die Einzige, die sinnvoll wäre und sich aus der Verfassung ergäbe.

Gleichzeitig muss man aber festhalten, mit ihr drohen unglaublich negative Auswirkungen für die Bürgerrechte. Was der Originalismus ist und ob die Gründungsväter tatsächlich die Ansichten der aktuellen konservativen Richterschaft am Supreme Court geteilt haben, erläutere ich in Teil 2: Originalismus und die Gründungsväter – Die Uneinigkeit der Auslegung, die die konservativen Richter am Supreme Court verschweigen

Auch interessant: Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland soll vor rassistischer Diskriminierung schützen. Was aber, wenn die Vorschrift selbst rassistisches Gedankengut verbreitet? >> Der Rassebegriff im Grundgesetz

Dr. Michael Hoerdt
Autor
Dr. Michael Hördt

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Er war Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. im Arbeitsrecht und für das Irlandgeschäft der Kanzlei zuständig. Aktuell ist er Syndikusrechtsanwalt bei Infosys Limited im Arbeitsrecht in Frankfurt a.M.

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