Corona und das Bundesverfassungsgericht – Verfassungsmäßigkeit der Bundesnotbremse und Leitlinien Karlsruhes

Die Beschlüsse des BVerfG zur Bundesnotbremse und den Schulschließungen haben viel Kritik erfahren. Die wichtigsten Punkte der Entscheidungen und weshalb das Bundesverfassungsgericht nicht einen Freifahrtsschein für alle Maßnahmen erteilt hat, aber dennoch die Stringenz der Argumentation von früheren Entscheidungen vermissen lässt.

Viel Kritik für die Bundesnotbremse

Die Beschlüsse des BVerfG zur Bundesnotbremse und den Schulschließungen haben viel Kritik erfahren. Die wichtigsten Punkte der Entscheidungen und weshalb das Bundesverfassungsgericht nicht einen Freifahrtsschein für alle Maßnahmen erteilt hat, aber dennoch die Stringenz der Argumentation von früheren Entscheidungen vermissen lässt.

Es waren wohl die meisterwarteten Entscheidungen des Jahres in Karlsruhe. Die sog. Bundesnotbremse I sowie die Schulschließungen im Zuge der Corona-Pandemie im Frühjahr 2021 standen auf dem Prüfstand.

 Die Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen vom Frühjahr waren verfassungsgemäß. Mit dem Beschluss v. 19.11.2021 hat Karlsruhe mehrere Klagen zurückgewiesen. 

Vor dem Bundesverfassungsgericht hielt diese jedoch dem kritischen Blick des Gerichts stand (BVerfG, Beschluss v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21, 1 BvR 889/21, 1 BvR 860/21, 1 BvR 854/21, 1 BvR 820/21, 1 BvR 805/21, 1 BvR 798/21 und BVerfG, Beschluss v. 19.11.2021 – 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21 (letzterer zu den Schulschließungen).

Im Rahmen dieses Beitrages soll aber gar nicht auf die Entscheidungen im Einzelnen eingegangen bzw. diese wiederholt werden, sondern vielmehr einige Punkte exemplarisch herausgegriffen werden, die für das juristische Studium spannend sind und Gegenstand eines Prüfungsgespräches sein können. Wer eine Zusammenfassung der Beschlüsse sucht, findet diese bereits in den Pressemitteilungen des BVerfG.

Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts

Zu beachten ist ebenfalls, dass viele Aussagen auf die Pandemie zugeschnitten sind, an dieser Stelle soll aber gerade auch auf die allgemeinen Leitlinien, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, eingegangen werden.

Vorgeschichte oder Dinner mit Folgen – ein Skandal?

Zu einem Abendessen mit der Bundesregierung hat Bundesverfassungsgerichtspräsident Harbarth den Vortrag mit folgendem Titel vorgeschlagen: „Entscheidung unter Unsicherheiten“: Welche Beurteilungsspielräume verbleiben den Gewalten bei tatsächlichen Unklarheiten? Wieviel Überprüfbarkeit verbleibt dem BVerfG? Wie kann Sicherheit gewonnen werden? Welche Evaluierungspflichten sind dabei zu berücksichtigen?“.

Dies wurde von einigen Beschwerdeführern als Erörterung der Corona-Maßnahmen angesehen, die bei der Bundesregierung stattfand, während das Verfahren zur Bundesnotbremse bereits anhängig war. Der erkennende Senat lehnte die Anträge gegen Präsident Harbarth und Richterin Baerth ab (BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2021 – 1 BvR 781/21). Es war nur um einen allgemeinen Austausch gegangen, der nicht auf die Corona-Maßnahmen oder das Verfahren bezogen war. Auch sonstige Äußerungen haben sich nach dem erkennenden Senat nicht auf das Verfahren bezogen. Es waren alles abstrakte und allgemeine Vorträge, die nicht auf ein bestimmtes Verfahren bezogen waren. Daher waren die Anträge erfolglos.

Wie dürfen sich Verfassungsrichter in der Öffentlichkeit äußern?

Spannend ist sicherlich für das Studium die Frage, wie sich Verfassungsrichter in der Öffentlichkeit und bei Treffen mit der Regierung äußern dürfen. Dazu muss man wissen, dass die abstrakte wissenschaftliche Äußerung immer erlaubt ist. So wurden auch die Aussagen und Vorträge im vorliegenden Fall gewertet.

Wer dies nun als Skandal wertet, muss beachten: Auch wenn Karlsruhe relativ weit weg von Berlin ist (über 760km), ist es natürlich nicht so, dass die Richter und der Politikbetrieb sich nicht kennen. Regelmäßig kommt es zu Begegnungen, sei es auf Veranstaltungen, Vorträgen oder auch Abendessen. Verboten ist dies alles nicht und sicherlich auch schon immer „Gang und Gäbe“ gewesen. Auch dass Richter Parteibücher hatten, ist keinesfalls ungewöhnlich.

Schon immer wurde vom „schwarzen und roten Senat“ gesprochen. Wer die strenge Trennung von Politikbetrieb in Berlin und richterlichem Karlsruher „Elfenbeinturm“ erwartet hat, lag damit sicherlich schon immer falsch. Kritisch kann man das Abendessen dennoch sehen, auch wenn damit nicht die Unbefangenheit der Beteiligten angezweifelt werden muss.

Wer in diesen politisch aufgeladenen Zeiten ein solches Abendessen veranstaltet und nicht das Feingefühl hat, über ein anderes Thema als „Entscheidung unter Unsicherheiten“ zu sprechen, obwohl man sicher sein kann, dass die Öffentlichkeit Notiz nehmen wird, muss sich über Kritik nicht wundern. Gerade die Unsicherheit während der Pandemie wurde ja auch immer wieder von der Politik betont, da fällt es natürlich leicht bei einem Vortragstitel wie bei dem Abendessen, diesen in Verbindung zu bringen.

Vor diesem Hintergrund wäre es natürlich umso wichtiger, wenn der erkennende Senat Entscheidungen getroffen hätte, die in ihrer Begründung unangreifbar gewesen wären. Dies ist dem Gericht leider nicht gelungen. Es hat zwar einiges bedeutendes festgehalten, sich aber zu viele Hintertüren offengehalten. Im Folgenden sollen nur einige Punkte angesprochen werden. Eine vertiefte und umfassende Analyse würde den Raum für diesen Beitrag komplett sprengen.

„Neue“ Schutzbereiche einzelner Grundrechte

Für die Praxis wichtig und ebenso für das Studium sind einige Aussagen, die erstmals hinsichtlich der Schutzbereiche einzelner Grundrechte getroffen werden.

– Schutzbereich des Art. 6 GG — Der Schutz der Familie

Spannend ist im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 1 GG folgende Aussage des Gerichts:

„Der Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG erfasst die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind. Der Schutz erstreckt sich zudem auf weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können.  Das Familiengrundrecht gewährleistet auch die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden Dementsprechend gibt Art. 6 Abs. 1 GG Ehegatten das Recht, über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei zu entscheiden.“  (BVerfG, Beschluss v. 19.11.2021 – 1 BvR 781/21, 1 BvR 889/21, 1 BvR 860/21, 1 BvR 854/21, 1 BvR 820/21, 1 BvR 805/21, 1 BvR 798/21)

Um es deutlich zu sagen: Das Bundesverfassungsgericht erkennt an dieser Stelle, ohne den Begriff tatsächlich zu verwenden, auch die sogenannte Patchwork-Familie an. Es zeigt sich deutlich und als Signalwirkung auch für zukünftige Entscheidungen, dass sich der Familienbegriff des Grundgesetzes im Wandel befindet. Mit Sicherheit mag dies ein Fingerzeig für die Zukunft sein, in vielerlei Hinsicht richtig und die Lebenswirklichkeit treffend. Dieser Punkt ist in der Entscheidung sehr zu begrüßen.

Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG — Die Ausübung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

Das Bundesverfassungsgericht geht im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG sogar noch einen Schritt weiter und erkennt ein Recht an, mit beliebigen anderen Menschen zusammenzutreffen. Dies bedeutet ein Zusammentreffen über die familiären Verhältnisse, die von Art. 6 Abs. 1 GG gesondert geschützt sind, hinaus. Gerade die Ausübung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Entfaltung der Persönlichkeit gehört selbstverständlich zum Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG. Eine Aussage, die bisher vom Gericht noch nie getroffen wurde – was es aber auch noch nie musste, da es laut dem Gericht ein selbstverständliches Recht ist. Dies mag auch zu überzeugen. So wie man darauf bestehen kann, alleine gelassen zu werden, so ist es wichtig, dass der Mensch grundsätzlich nicht in Isolation gezwungen wird. Angezweifelt hat bis zur Pandemie niemand ein solches Recht und es wird sehr schön in der Entscheidung ausgeführt:

Danach schützt es (das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Anmerkung des Autors) zwar nicht jegliche Zusammenkunft mit beliebigen anderen Personen, bietet jedoch Schutz davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird. Anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung.“

Nun in der Pandemie war es aber so, dass die Kontaktbeschränkungen Zusammenkünfte unterbanden, und das Bundesverfassungsgericht musste diesen Teil des Schutzbereiches ansprechen. Mit Sicherheit kann dies aber im Studium nun auch relevant werden und muss bei einer Prüfung bekannt sein.

Recht auf schulische Bildung

In der zweiten Entscheidung bzgl. der Schulschließungen erkennt der Senat aus Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 7 Abs. 1 GG ein Recht auf schulische Bildungen an.

Dieses wird in den Beschlüssen zur Schulbildung bereits im ersten Leitsatz definiert:

„Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung).“

Ebenfalls wird in den Entscheidungen festgehalten:

„Das Recht auf schulische Bildung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG gibt Schülerinnen und Schülern die Befugnis, die Einhaltung eines für ihre Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsleistungen an staatlichen Schulen zu verlangen.“

An dieser Stelle schafft also das Bundesverfassungsgericht ein neues Recht, welches bisher noch nicht in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung aufgetaucht war. Dies ist sehr beachtlich und ein wichtiger Punkt der Entscheidungen.

Im nächsten Schritt lässt die Argumentation des Gerichts aber an vielen Stellen die Präzession, Klarheit und Stringenz vermissen, für die das Gericht ansonsten berühmt ist. Das beginnt bei den Ausführungen zu selbstvollziehenden Gesetzen und setzt sich über die Verhältnismäßigkeit leider fort.

Selbstvollziehende Gesetze

Ein wichtiger Punkt, der vom Bundesverfassungsgericht angesprochen wurde, war dass die Bundesnotbremse als selbstvollziehendes Gesetz ausgestaltet war. Dies bedeutet, dass es keines weiteren Aktes der Exekutive bedurfte, sondern das Gesetz selbst Rechte und Pflichten begründete. Einfach ausgedrückt: Bzgl. des „0b“ lag bei den Behörden kein Ermessensspielraum vor. Z.B. hat bei den Ausgangssperren jemand sofort dagegen verstoßen, egal ob die Person gerade nur zwei Meter die Wohnung verlassen hat, um den Müll wegzubringen oder sich mit weiteren Personen auf der Straße getroffen hat. Die Exekutive hat keinerlei eigenes Ermessen mehr.

Hier erzürnt sich auch berechtige Kritik am Bundesverfassungsgericht. Zwar mag es in dem Fall der Bundesnotbremse gute Argumente für den gewählten Weg gegeben haben, da es ein neuer Zustand war, mit dem noch kein Gesetzgeber in der Geschichte der BRD konfrontiert war; allerdings hat das Bundesverfassungsgericht zu wenig klare Linien gezogen, wann solche selbstvollziehenden Gesetze möglich sein sollen:

„Der gesetzgeberische Spielraum bei der Wahl der Handlungsform endet vielmehr regelmäßig erst bei sogenannten Einzelpersonengesetzen (vgl. BVerfGE 139, 321 <364 f. Rn. 130>). Die verfahrensgegenständlichen Kontaktbeschränkungen hatte der Gesetzgeber aber nicht für einen Einzelfall geregelt, sondern er hatte abstrakt-generelle Regelungen mit erheblicher Anwendungsbreite geschaffen.“

Hier kann man nur hoffen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung wieder korrigiert. Gerade der doch eingeschränkte Schutz vor den Fachgerichten, der durch den fehlenden Umsetzungsakt durch die Verwaltung erfolgt, ist eine Aufweichung der Gewaltenteilung. Der erkennende Senat sieht dies auch, hält die Verschiebung zu Gunsten der Parlamente aber noch für im Rahmen. Grundsätzlich ist es eine spannende Frage. Wird auf der einen Seite immer mehr der (gefühlte) Bedeutungsverlust der Parlamente zugunsten der Exekutive beklagt, ist es nun gerade anders herum. In einer Prüfung muss man diese Problematik erläutern können. Bedauerlich ist es aber, dass keine klaren Leitlinien in den Beschlüssen selbst genannt wurden.

Was kann das Bundesverfassungsgericht prüfen und entscheiden?

Was meint eigentlich Verhältnismäßigkeit?

Ein Punkt, der an dieser Stelle auch angesprochen werden soll, ist die Frage, was eigentlich Verhältnismäßigkeit meint. Dabei soll hier jetzt kein Vortrag über Übermaßverbot und Co. folgen, sondern vielmehr klargestellt werden, was das Bundesverfassungsgericht überhaupt prüfen und entscheiden kann.

Das BVerfG als „Ersatzgesetzgeber“?

Es ist klar festzuhalten: Weder kann sich das Bundesverfassungsgericht zum „Ersatzgesetzgeber“ aufschwingen, noch entscheidet es in so eindeutigen Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“. Ob die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus daher „die bestmöglichen waren“ oder es bessere gegeben hätte, war nicht Gegenstand der Entscheidung, sondern vielmehr ob der Gesetzgeber seinen ihm von der Verfassung, d.h. dem Grundgesetz, gewährten Spielraum gewahrt hat oder dieser überschritten wurde.

Jede andere Erwartung an das Bundesverfassungsgericht wäre viel zu weitgehend und würde auch nicht seiner tatsächlichen Rolle entsprechen. Es ist nicht so, dass das Bundesverfassungsgericht schlauer als alle Politiker, Virologen, Epidemiologen und Mediziner zusammen ist, sondern es beurteilt die Maßnahmen am Recht und dem ihm bekannten Sachverhalt, der sich im Rahmen der COVID-19 Pandemie natürlich am jeweiligen Sachstand von Forschung und Wissenschaft orientiert.

Das ist auch der Maßstab an dem sich der Senat bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit zu orientieren hatte und woran die angegriffenen Normen des Bundesinfektionsschutzes zu messen waren. Dabei kommt es durch das Bundesverfassungsgericht zu einer Abwägung und zur Prüfung, ob die Maßnahmen, die das Gesetz vorsieht, diesem Grundsatz standhalten. Dabei wird aber dem Gesetzgeber auch ein Einschätzungsspielraum zugestanden.

Entscheidung der BVerfG ist kein Freifahrtschein

Dabei ist eines klar: Anders als von einigen Kommentatoren behauptet, hat das Gericht der Politik gerade keinen Freifahrtschein überreicht. Es hat die Situation im April 2021 beurteilt, als es noch kaum Impfungen gab, man weniger Erkenntnisse als im November 2021 hatte und dennoch gegen hohe Inzidenzen zum Schutz des Gesundheitswesens und einer Überlastung der Intensivstationen vorgehen musste.

Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts war, dass die Maßnahmen im Frühjahr verfassungsgemäß waren. Nochmal deutlich: Das bedeutet nicht, dass sie perfekt waren, aber sich im Spielraum hielten, den die Verfassung dem Gesetzgeber zugesteht. Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht aber auch Einschränkungen vorgenommen und gerade keinen Persilschein in der Pandemie verliehen.

Zuzustimmen ist aber der Kritik, dass das Bundesverfassungsgericht diese Leitlinien wenig deutlich und sehr zwischen den Zeilen stehen lassen hat. Mag es sein, dass dies geschah, um bei späteren Entscheidungen Spielraum zu haben oder es sich nicht veranlasst sah, hierzu weitere Äußerungen in seinen Beschlüssen vorzunehmen. Bedauerlich ist dies in jedem Fall, da es auf diesem Weg Angriffsfläche zulässt und gerade die stringente, präzise und dadurch eindeutige Argumentation vermissen lässt, für die das Gericht normalerweise berühmt ist.

Ständige Überprüfung der Maßnahmen

Insbesondere bezüglich der Schulschließungen äußert sich das Bundesgericht hinsichtlich der Aufgaben des Gesetzgebers zu einer Situation wie bei COVID-19, bei der sich die Datenlage und Erkenntnisse immer wieder ändern:

„…der Gesetzgeber […] dann, wenn er eine Maßnahme auf unsicherer Tatsachen- und Prognosengrundlage trifft, ohnehin verpflichtet, die weitere Entwicklung zu beobachten und das Gesetz nachzubessern, falls zu befürchten ist, dass die Maßnahme wegen veränderter tatsächlicher Bedingungen oder einer veränderten Erkenntnislage in die Verfassungswidrigkeit hineinwächst.“

Das Gericht stellt also klar, der Gesetzgeber kann nicht einfach ein Gesetz in einer Pandemie erlassen und harte Maßnahmen generell durchsetzen, nur weil es einmal beschlossen war. Auch wenn an dieser Stelle weitere Leitlinien gefragt wären und die knappe Aussage unbefriedigend erscheint, ist zumindest eine Grenze für die Gewährleistung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gegeben. Zusätzlich hält der Senat fest:

Die Maßnahme kann dann nur in einem auf Öffentlichkeit und Transparenz angelegten Gesetzgebungsverfahren auf der Grundlage einer umfassenden Aufbereitung der aktuellen Sachlage und einer erneuten Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte fortgeschrieben werden (vgl. BVerfGE 139, 148 <176 f. Rn. 55>; 143, 246 <343 Rn. 274 f.>); bei einer Untätigkeit des Gesetzgebers tritt sie automatisch außer Kraft.“

Welche Grenzen an dieser Stelle wieder anzunehmen sind, erwähnt das Gericht leider nicht und vergibt auch hier wieder eine Chance, dem Gesetzgeber klare verfassungsrechtliche Leitlinien an die Hand zu geben.

„Hausaufgaben“ für den Gesetzgeber: Maßnahmen für die Zukunft ergreifen

Auch bekommt der Gesetzgeber „Hausaufgaben“ mit, um Schulschließungen zu verhindern oder zumindest soweit wie möglich abzumildern:

Als naheliegende Vorkehrungen für eine grundrechtsschonendere Bekämpfung von Infektionen im Bereich der Schule im weiteren Verlauf der Pandemie ist etwa an eine Verbesserung der Lüftungsverhältnisse in den Klassenzimmern oder die Eröffnung von Optionen für die Nutzung größerer Räume zur Einhaltung von Abstandsgeboten zu denken. Unter anderem durch solche Maßnahmen könnten Schulschließungen je nach Infektionslage verhindert oder die Schwelle hierfür angehoben werden. Als weitere Vorkehrung drängt sich insbesondere die verstärkte Digitalisierung des Schulbetriebs und die Entwicklung darauf bezogener pädagogischer Konzepte auf, um für den Fall künftiger Schulschließungen Bildungsverluste durch einen nach Umfang und Qualität verbesserten Distanzunterricht möglichst weitgehend verhindern und damit die Eingriffsintensität der Maßnahme senken zu können.“

Offen ist jedoch gelassen, was geschieht, wenn man diesen Vorgaben nicht nachkommt. In Bayern war Ende Oktober laut einem Bericht des BR nur in jedem dritten Klassenzimmer Luftreiniger.

Auch die Digitalisierung lässt zu wünschen übrig – so musste ich selbst bei Bekannten erleben, dass deren Töchter alle Materialien ausdrucken mussten. Als dann noch der Drucker kaputt ging, habe ich für die Familie eine Woche ausgedruckt. Solche Zustände sind keine Digitalisierung des Unterrichts, sondern einfach nur das Verlagern des Ausdruckens von Arbeitsblättern in den Heimbetrieb. An dieser Stelle wäre Deutlichkeit des erkennenden Senats wünschenswert gewesen, wo die Grenzen in der Zukunft liegen und nicht nur der Verweis, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Eingriffsintensität gering zu halten. Ein Weiter-so der bisherigen Maßnahmen ist nämlich gerade nicht erwünscht und erfüllt bei den Schulschließungen auch nicht das Recht auf Bildung. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Vagheit in diesen Punkten nicht unbedingt einen Gefallen getan. Dennoch sollte man diese Punkte in einer mündlichen Prüfung parat haben und diskutieren können.

Abschließende Bemerkungen und Ausblick in die Zukunft

Die Entscheidungen sorgten naturgemäß für erhebliche Kontroversen. Als Glanzstunde der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung werden die genannten Beschlüsse bestimmt nicht in die Geschichte eingehen. Dennoch sind sie auch nicht der pandemische Umbau des Grundgesetzes. Sie geben dem Gesetzgeber keine freie Hand, sondern stellen klar – leider nicht so deutlich, wie es wünschenswert gewesen wäre – dass alle Maßnahmen und Freiheitseinschränkungen ständiger Überprüfung und Rechtfertigung bedürfen.

Nach diesem Maßstab kann man kaum davon ausgehen, dass ein „Lockdown für alle“ oder allgemeine Schulschließungen wieder möglich sein werden. Zumindest für volljährige Erwachsene, die vollständig geimpft sind, kann es keine Einschränkungen im gleichen Maß geben wie im letzten Winter und Frühjahr. Für Ungeimpfte mag die Situation aber anders aussehen. Auch ist der Gesetzgeber angehalten, Maßnahmen zu ergreifen, um Freiheitseinschränkungen, sollte die Pandemie weiter andauern, so gering wie möglich zu halten.

Die Hoffnung bleibt, dass mit einer sich weiter erhöhenden Impfquote, die Pandemie zumindest im nächsten Jahr zu einem Ende kommt. Auch gibt es erste vielversprechende Tests von Medikamenten gegen COVID-19, sodass die Krankheit hoffentlich, bewusst laienhaft ausgedrückt, „zu einer einfachen Erkältung“ verkommen mag (die das Virus leider bei weitem aktuell nicht ist).

Das Bundesverfassungsgericht hat aber zumindest erste Leitlinien gegeben, was der Gesetzgeber bei all seinen Entscheidungen immer wieder evaluieren muss. Man kann nur hoffen, dass das BVerfG in späteren Entscheidungen wieder zu seiner klaren Rechtsprechung kommt, die man von ihm gewohnt ist. Diese Hintertür hat es sich selbst offengelassen, indem es sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit nur auf die Situation im April 2021 bezogen hat.

Dr. Michael Hoerdt
Autor
Dr. Michael Hördt

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Er war Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. im Arbeitsrecht und für das Irlandgeschäft der Kanzlei zuständig. Aktuell ist er Syndikusrechtsanwalt bei Infosys Limited im Arbeitsrecht in Frankfurt a.M.

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