
Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland: Entwicklung, Streitpunkte und EU-Einfluss
Der Mindestlohn – rechtliche Hintergründe und aktuelle Diskussionen
Mindestens 15 Euro pro Stunde als gesetzlicher Mindestlohn ab 2026 – so lautet die Forderung der SPD in der aktuellen Debatte. Das wäre ein deutlicher Sprung vom derzeitigen Mindestlohn von 12,82 Euro pro Stunde. Die SPD verweist dabei auf die Europäische Mindestlohnrichtlinie. Diese sieht einen Mindestlohn von 60 % des Bruttomedianlohns vor, was in Deutschland etwa 15 Euro entsprechen würde. [1]
Auch im Koalitionsvertrag wird ein Mindestlohn von 15 Euro für das Jahr 2026 als Ziel genannt. Ursprünglich hatte der SPD-Generalsekretär sogar ein direktes gesetzgeberisches Eingreifen gefordert. Die Mindestlohnkommission hat nun einen Mindestlohn von 14,60 EUR (brutto) pro Stunde festgesetzt. [2]
Gleichzeitig hält der EU-Generalanwalt die Mindestlohnrichtlinie für unvereinbar mit dem AEUV und damit für nichtig (Schlussanträge vom 14.01.2025 – C-19/23). Eine nichtige EU-Richtlinie müsste folglich nicht umgesetzt werden.
Dieses Spannungsverhältnis wirft mehrere Fragen auf:
Wie wird der Mindestlohn in Deutschland bislang festgelegt? Welche Hintergründe prägen diesen Prozess? Und welche Konsequenzen hätte es, wenn der EuGH die Mindestlohnrichtlinie tatsächlich für nichtig erklärt?
Der Mindestlohn in Deutschland – ein relativ neues Instrument
Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland wurde erst vor zehn Jahren, im Jahr 2015, eingeführt. Zuvor gab es keine allgemeine Lohnuntergrenze; lediglich das Verbot sittenwidriger Löhne setzte eine Schranke. Der erste gesetzliche Mindestlohn lag bei 8,50 Euro brutto pro Stunde.
Die Mindestlohnkommission
Das Mindestlohngesetz (MiLoG) legte den Mechanismus fest, nach dem die Höhe des Mindestlohns künftig bestimmt werden sollte. Damit wurde die Entscheidung aus der Hand der Politik genommen und in die Verantwortung der Mindestlohnkommission gelegt.
Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 MiLoG besteht die Kommission aus „einer oder einem Vorsitzenden, sechs weiteren stimmberechtigten ständigen Mitgliedern und zwei Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft ohne Stimmrecht (beratende Mitglieder).“ Die stimmberechtigten Mitglieder setzen sich jeweils zur Hälfte aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern – den sogenannten Sozialpartnern – zusammen.
Alle zwei Jahre entscheidet die Kommission über eine Anpassung des Mindestlohns (§ 9 Abs. 1 MiLoG). Die Idee dahinter: Die Höhe des Mindestlohns sollte ausschließlich von den Sozialpartnern festgelegt werden, unabhängig von parteipolitischen Interessen.
In meinen Augen war das eine kluge Entscheidung, um den Mindestlohn nicht zum Wahlkampfthema werden zu lassen und einen politischen „Überbietungswettbewerb“ zu vermeiden. Zudem hat sich die Sozialpartnerschaft bei Tarifverhandlungen grundsätzlich bewährt – trotz aller Kritik und möglichen Verbesserungsansätze.

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2022 – der „Sündenfall“ des politischen Mindestlohnes
Bereits im Jahr 2022 kam es zum sogenannten „Sündenfall“: Der Mindestlohn wurde politisch durch Gesetz festgelegt – unabhängig von der Mindestlohnkommission. Gemeint ist damit nicht die konkrete Höhe von 12 Euro pro Stunde, über die sich durchaus streiten lässt, sondern der Umstand, dass die Politik selbst den Eingriff vornahm. Keine zehn Jahre nach Einführung des Mindestlohns nutzte sie damit die Gelegenheit, durch eine Erhöhung möglicherweise Stimmen bei der Bundestagswahl zu gewinnen und zugleich die eigenen, zuvor gesetzten Grenzen zu überschreiten.
Die Mindestlohnkommission wurde dadurch faktisch entmachtet, und das Prinzip eines von den Sozialpartnern ausgehandelten Kompromisses dem Willen des Gesetzgebers untergeordnet. Beteuerungen, es handle sich um eine einmalige Ausnahme, wirken wenig überzeugend, wenn bereits drei Jahre später erneut über ein politisches Eingreifen diskutiert wird – diesmal mit Blick auf die Forderung nach mindestens 15 Euro pro Stunde.
Aus rechtlicher Sicht dürfte ein solcher „erneuter Sündenfall“ jedoch ausbleiben. Die Argumente für eine politische Festsetzung oder gar eine gesetzliche Bindung der Kommission sind schwach. Zum einen wird auf den Koalitionsvertrag verwiesen, der jedoch lediglich festhält, ein Mindestlohn von 15 Euro sei bis 2026 „erreichbar“. Damit formulieren die Koalitionspartner eine politische Zielvorstellung, keine verbindliche Vorgabe. Zum anderen entfaltet ein Koalitionsvertrag ohnehin keine rechtlich durchsetzbare Wirkung.
Auch wenn es letztlich nicht zu einer erneuten gesetzlichen Festlegung kam, bleibt festzuhalten: Politische Forderungen und Drohungen setzen die Mindestlohnkommission dennoch unter erheblichen Druck. Die Gefahr besteht, dass immer dann, wenn das Ergebnis nicht den Erwartungen entspricht, der Gesetzgeber kurzerhand eingreift – eine klare Abkehr von den Prinzipien, die erst wenige Jahre zuvor zur Entpolitisierung der Mindestlohnfestsetzung geschaffen wurden.

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Die EU-Mindestlohnrichtlinie
Die Forderung nach 15 Euro wird auch mit europäischem Recht begründet. Häufig wird dabei auf die Richtlinie (EU) 2022/2041 – die sogenannte Mindestlohnrichtlinie – verwiesen. Sie soll angeblich vorschreiben, dass der Mindestlohn 60 % des Bruttomedianlohns betragen muss. Dieses Argument greift jedoch zu kurz.
Keine Festlegung des Bruttomedianlohnes
Erwägungsgrund 28 der Richtlinie stellt klar, dass angemessene Mindestlöhne gezahlt werden sollen. Wie diese Angemessenheit bestimmt wird, bleibt jedoch den Mitgliedstaaten überlassen. Dort heißt es ausdrücklich:
„Die Mitgliedstaaten können zwischen international üblichen Indikatoren und/oder den auf nationaler Ebene verwendeten Indikatoren wählen.“
Die Richtlinie nennt verschiedene mögliche Referenzwerte: etwa 60 % des Bruttomedianlohns, 50 % des Bruttodurchschnittslohns oder 50 % des Nettodurchschnittslohns. Außerdem können nationale Indikatoren herangezogen werden, wie Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie nochmals betont. Es handelt sich also nicht um eine verbindliche Vorgabe, sondern um Beispiele für mögliche Bemessungsgrundlagen.
Eine starre Pflicht, den Mindestlohn auf 60 % des Bruttomedianlohns festzulegen, besteht daher nicht. Wäre es anders, hätte dies gravierende Folgen: Der Mindestlohn müsste zwingend vom Gesetzgeber festgelegt werden, da die Mindestlohnkommission keinen Spielraum mehr hätte. Genau das widerspricht jedoch dem Ziel der Richtlinie. In Erwägungsgrund 19 wird vielmehr betont, dass die Mitgliedstaaten Rahmenbedingungen schaffen sollen, die angemessene Löhne fördern – nicht aber ein starres System vorgeben.
Am Ende dürfte die konkrete Auslegung dieser Richtlinie ohnehin nicht entscheidend sein.
Europarechtswidrigkeit der Mindestlohnrichtlinie
Es ist sehr wahrscheinlich, dass der EuGH die Mindestlohnrichtlinie für nichtig erklären wird. Dänemark und Schweden haben dagegen Klage erhoben, und in seinen Schlussanträgen vom 14.01.2025 (C-19/23) hat der EU-Generalanwalt überzeugend dargelegt, weshalb die Richtlinie unzulässig ist. In den meisten Fällen folgt der EuGH dieser Einschätzung.
Keine Regelung von Entgelt
Art. 153 Abs. 5 AEUV schließt eine Zuständigkeit der EU im Bereich des Arbeitsentgelts ausdrücklich aus. Nach Auffassung des Generalanwalts umfasst dieser Begriff nicht nur die konkrete Höhe der Vergütung. Würde man ihn so eng verstehen, könnte der EU-Gesetzgeber sämtliche Rahmenbedingungen der Lohnfestsetzung harmonisieren, solange er die exakte Höhe offenließe. Die Ausnahme des Art. 153 Abs. 5 AEUV wäre damit weitgehend bedeutungslos. Deshalb erfasst sie auch die Grundsätze und Rahmenbedingungen der Entgeltbestimmung. Zuständig bleiben allein die Mitgliedstaaten – entsprechend dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung.
Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung
Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ist in Art. 5 Abs. 2 EUV verankert. Dieser lautet:
„Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“
Da die Regelung des Arbeitsentgelts nicht zu den übertragenen Zuständigkeiten gehört, kann die EU in diesem Bereich auch keine Vorgaben machen. Das führt zur Nichtigkeit der Mindestlohnrichtlinie. Damit entfällt auch das Argument, die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, den Mindestlohn bei 60 % des Bruttomedianlohns festzusetzen.
Selbst wenn die Richtlinie wider Erwarten nicht aufgehoben würde, müsste der EuGH klarstellen, dass die konkrete Höhe des Mindestlohns nicht durch sie festgelegt werden kann. Dies würde allerdings erhebliche Unsicherheiten erzeugen: Einerseits soll die Richtlinie für angemessene Löhne sorgen, andererseits darf sie keine konkreten Vorgaben zur Höhe machen. Ein kaum auflösbarer Widerspruch.
Die ausdrückliche Ausklammerung des Arbeitsentgelts aus den Zuständigkeiten der EU bleibt daher ein starkes Argument für die Nichtigkeit der Richtlinie.

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Mindestlohn – Fazit
Es steht außer Frage: Wer in Vollzeit arbeitet, soll und muss genug zum Leben haben. Der Mindestlohn soll genau das gewährleisten und zugleich einen angemessenen Abstand zu den sozialen Sicherungssystemen wahren. Arbeit muss sich lohnen. Eine allgemeingültige Antwort auf die Frage, ab welcher Höhe Lohn tatsächlich „gerecht“ ist, kann und will dieser Beitrag jedoch nicht geben.
Das Thema ist zu komplex und von zahlreichen Faktoren abhängig. Entscheidend ist vielmehr, wer für die Festlegung eines gerechten Mindestlohns zuständig ist. Wird diese Aufgabe allein der Politik überlassen, droht schnell ein Überbietungswettbewerb um Wählerstimmen.
Die gesetzlich verankerte Kompromissfindung durch die Sozialpartner erscheint mir persönlich daher als beste Lösung. Ich hoffe, dass die politische Festsetzung des Mindestlohns ein Ausnahmefall bleibt. Sollte der EuGH die Mindestlohnrichtlinie tatsächlich für nichtig erklären, würde das deutsche System der Mindestlohnfindung durch die Sozialpartner wohl wieder stärker in den Vordergrund rücken.

Dr. Michael Hördt, M.C.L. (Mannheim/ Adelaide) studierte Jura an der Universität Heidelberg mit Praktika in Zürich und Dublin. Danach erwarb er den Master of Comparative Law der Universität Mannheim und der University of Adelaide und promovierte zum Thema „Pflichtteilsrecht und EuErbVO“ an der Universität Potsdam. Sein Referendariat absolvierte er am LG Darmstadt mit Stationen in Dublin und Washington, D.C. Nach Stationen als Rechtsanwalt in einer mittelständischen Kanzlei in Frankfurt a.M. für Arbeitsrecht und das Irlandgeschäft der Kanzlei und anschließend als Syndikusrechtsanwalt bei einem indischen IT-Konzern ist er aktuell als Assistant General Counsel EMEA Legal HR bei Elanco tätig.
Die Ansichten in seinen Beiträgen sind seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die des Unternehmens wider.
Quellen & Weblinks
Das Wichtigste in Kürze – Der gesetzliche Mindestlohn
- Die SPD fordert ab 2026 einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 15 Euro pro Stunde. Aktuell liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 12,82 Euro pro Stunde.
- Die Forderung stützt sich auf die EU-Mindestlohnrichtlinie, welche 60 % des Bruttomedianlohns als Referenz nennt. Der Koalitionsvertrag nennt 15 Euro im Jahr 2026 als erreichbares Ziel, aber keine rechtlich verbindliche Zusage.
- Die Mindestlohnkommission hat kürzlich einen Mindestlohn von 14,60 Euro pro Stunde festgelegt. Parallel hält der EU-Generalanwalt die Richtlinie für unionsrechtswidrig und damit für nichtig.
- Der gesetzliche Mindestlohn wurde in Deutschland erst 2015 eingeführt. Zuvor wurde die Lohnuntergrenze über das Kriterium der Sittenwidrigkeit geregelt.
- Die Mindestlohnkommission setzt sich aus Vertretern der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite sowie beratenden Wissenschaftlern zusammen. Ihre Aufgabe ist es, alle zwei Jahre eine Anpassung des Mindestlohns vorzunehmen.
- 2022 legte die Politik den Mindestlohn unabhängig von der Kommission fest – ein Bruch mit dem bisherigen Verfahren. Der politische Eingriff wurde als „Sündenfall“ bezeichnet, da er die Unabhängigkeit der Kommission untergräbt.
- Forderungen nach 15 Euro pro Stunde verstärken politischen Druck auf die Kommission. Dadurch droht die Gefahr, dass politische Einflussnahme künftig zur Regel wird.
- Die EU-Richtlinie (2022/2041) schreibt keine festen Lohnhöhen vor. Sie nennt 60 % des Bruttomedianlohns nur als eine Möglichkeit zur Orientierung.
- Der EU-Generalanwalt argumentiert, dass die Richtlinie gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV verstößt. Dieser schließt Regelungen zum Arbeitsentgelt aus der EU-Zuständigkeit aus.
- Sollte der EuGH die Richtlinie für nichtig erklären, bleibt das nationale System der Mindestlohnkommission maßgeblich. Das würde den politischen Einfluss auf die Lohnfindung wieder begrenzen.
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