Scheinselbstständigkeit – Urteile, Kriterien & mögliche Rechtsfolgen

Für selbstständige Dienstleister ist die Scheinselbstständigkeit ein juristisches Thema mit hoher Praxisrelevanz – und aus genau diesem Grund nicht selten Gegenstand einer Examensklausur.

Scheinselbstständigkeit – aktuelle Urteile

Für selbstständige Dienstleister ist die Scheinselbstständigkeit ein juristisches Thema mit hoher Praxisrelevanz – und aus genau diesem Grund ist es nicht selten Gegenstand einer Examensklausur. Die Rechtsprechung zum Thema Scheinselbstständigkeit entwickelt sich laufend fort.

Beispielsweise hat das Bundessozialgericht in drei aktuellen Urteilen (Az. B 12 KR 29/19 R, Az. B 12 R 9/20 R und Az. B 12 R 10/20 R) über den Beschäftigungsstatus von Ärzten entschieden, welche nebenberuflich als Notärzte für ein Krankenhaus tätig waren. In all diesen Fällen ging es jeweils zentral um die Abgrenzung zwischen Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit.

Das Sozialversicherungsrecht verweist auf das Zivilrecht, und auf Ebene des Zivilrechtes findet die Beurteilung statt.

Neben dem Arbeitsrecht und dem Zivilrecht berührt der Themenkomplex auch das Sozialversicherungsrecht, das Steuerrecht und in Extremfällen das Strafrecht, diese sind allerdings erst aufseiten der Rechtsfolgen von Bedeutung. Die eigentliche juristische Herausforderung liegt in der Prüfung des Tatbestandes, also in der Frage, ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt. Daher wollen wir uns in diesem Beitrag dem Tatbestand nähern und einige prüfungstaugliche Argumente für oder gegen das Vorliegen einer Scheinselbstständigkeit im Einzelfall herausarbeiten.

Wann prüfe ich die Scheinselbstständigkeit?

Ein Indiz dafür, dass bei der Bearbeitung eines Sachverhaltes das Vorliegen einer Scheinselbstständigkeit geprüft werden muss, ist das Vorliegen eines Dienstvertrages zwischen zwei Unternehmern. Als scheinselbstständig gilt im Rahmen eines solchen Vertrages diejenige Partei, die funktional betrachtet eher Arbeitnehmer als Unternehmer ist. Sowohl gewerbetreibende als auch freiberuflich tätige Personen können scheinselbstständig sein.

Rechtsfolgen der Scheinselbstständigkeit

In der Praxis ist das Thema Scheinselbstständigkeit deswegen relevant, weil vermeintliche Dienstverträge dazu genutzt werden können, Vorschriften des Arbeitsrechtes und Sozialversicherungsrechtes zu umgehen. Auch steuerrechtlich ist das Thema relevant, da der Arbeitgeber die vom Dienstleister ausgewiesene Umsatzsteuer nach § 15 UStG als Vorsteuer geltend machen und somit seine Umsatzsteuerlast reduzieren kann. Auf Arbeitslohn fällt jedoch keine Umsatzsteuer an, weswegen der Vorsteuerabzug ungültig ist.

Wird die Scheinselbstständigkeit festgestellt, wird das Dienstverhältnis rückwirkend zum Arbeitsverhältnis.

Wird die Scheinselbstständigkeit festgestellt, wird das Dienstverhältnis rückwirkend zum Arbeitsverhältnis. Zu Unrecht erstattete oder nicht entrichtete Steuern und Sozialbeiträge müssen dann zurückgezahlt werden. Die vom Dienstleister vereinnahmten Vergütungen gelten als Nettolohn, der Auftraggeber muss also nachträglich die Lohnsteuer anmelden und abführen.

Liegen Anhaltspunkte für eine vorsätzliche Verletzung der Pflichten insbesondere des Auftraggebers vor, kann ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung (§ 370 AO) die Folge sein. Dieses kann in Ausnahmefällen auch den Auftragnehmer treffen, falls dieser an der rechtswidrigen Gestaltung bewusst mitgewirkt und hierdurch einen steuerlichen Vorteil erlangt hat.

Der Begriff des Beschäftigten

Scheinselbstständigkeit liegt dann vor, wenn die vermeintliche Dienstleistung in Wirklichkeit ein Beschäftigungsverhältnis im Sinne von § 7 SGB IV darstellt. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung liegt insbesondere dann vor, wenn zwischen den Parteien ein Arbeitsvertrag besteht.

Kurz gesagt: Scheinselbstständigkeit liegt insbesondere dann vor, wenn ein geschlossener und ausgeführter Dienstleistungsvertrag in Wirklichkeit ein Arbeitsvertrag ist, aus welchem ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis resultiert.

Ein Beschäftigungsverhältnis im Sinne des SGB IV resultiert aus einem Arbeitsverhältnis nach dem BGB, es ist aber nicht synonym zu diesem.

Hinweis: Das Sozialversicherungsrecht verweist auf das Zivilrecht, und auf Ebene des Zivilrechtes findet die Beurteilung statt. Es ist trotzdem extrem wichtig, die Terminologie des Zivilrechtes und des Sozialversicherungsrechtes auseinander zu halten: Ein Beschäftigungsverhältnis im Sinne des SGB IV resultiert aus einem Arbeitsverhältnis nach dem BGB, es ist aber nicht synonym zu diesem. Das Steuerrecht wiederum knüpft an das Sozialversicherungsrecht an und ist erst bei der Feststellung der Rechtsfolgen relevant.

Und an dieser Stelle wird es klausurrelevant: Die Abgrenzung von Arbeits- und Dienstleistungsverträgen kann Gegenstand einer Prüfung im Zivilrecht sein und stellt dabei insbesondere die Fähigkeit zur differenzierten Betrachtung und Argumentation auf die Probe.

Der Begriff des Arbeitnehmers

Das Sozialversicherungsrecht verweist auf das Zivilrecht, da die Vertragsgestaltung und die Art und Weise der Leistungserbringung darüber entscheiden, ob Scheinselbstständigkeit vorliegt oder nicht. Für die Prüfung benötigen wir zunächst folgende Vorschriften:

  • § 611 BGB, Dienstvertrag
  • § 611a BGB, Arbeitsvertrag.

An dieser Stelle ist es zunächst wichtig, die Systematik des Gesetzes zu verstehen. Der Dienstvertrag ist der allgemeinere Vertragstyp mit dem größeren Anwendungsbereich, der Arbeitsvertrag ist ein Spezialfall des Dienstvertrages.

Wenn zwei Parteien einen Vertrag abschließen, nach welchem eine Partei sich zur Arbeit für die andere Partei verpflichtet, liegt immer ein Dienstvertrag vor.

Der Dienstvertrag ist auf die Ausführung einer Tätigkeit gerichtet, während der Werkvertrag die Herstellung eines bestimmten Erfolges zum Gegenstand hat.

Hinweis: auch der Werkvertrag nach § 631 BGB ist vom Dienstvertrag abzugrenzen, dies ist allerdings in ganz anderen Fallkonstellationen entscheidend. Der Dienstvertrag ist auf die Ausführung einer Tätigkeit gerichtet, während der Werkvertrag die Herstellung eines bestimmten Erfolges (Werkes) zum Gegenstand hat. Die denkbare Schnittmenge aus Werkvertrag und Arbeitsvertrag ist gering, da erfolgsorientierte Vereinbarungen in Arbeitsverträgen – zumindest hinsichtlich der Hauptleistungspflichten – untypisch sind.

Aus dem Dienstvertrag wird allerdings dann ein Arbeitsvertrag, wenn bestimmte Kriterien vorliegen. Wer vom Arbeitgeber abhängig ist, ist Arbeitnehmer und kein Dienstleister. Auch die Gewährung bestimmter Vorteile kann dazu führen, dass das Vertragsverhältnis funktional als Arbeitsverhältnis bewertet wird. Die letztendliche Entscheidung basiert auf einer Gesamtbetrachtung, es ist also eine Abwägung und Gewichtung der unterschiedlichen Kriterien erforderlich.

Im Folgenden werden wir uns die wesentlichen Abgrenzungskriterien ansehen und einige Argumentationsansätze herausarbeiten, die sowohl in der Klausur als auch in der Berufspraxis als Anhaltspunkt dienen können.

Scheinselbstständigkeit vermeiden: Abgrenzungskriterien

Wie genau können Auftraggeber und Auftragnehmer dem Verdacht der Scheinselbstständigkeit vorbeugen, wann ist das Vorliegen der Scheinselbstständigkeit in der Prüfung abzulehnen? Zahlreiche vergangene und aktuelle Urteile lassen eine gewisse Linie in der Beurteilung erkennen und stellen einige wesentliche Kriterien fest.

1. Wirtschaftliches Risiko

Das wichtigste Argument bei der Beurteilung, ob Scheinselbstständigkeit vorliegt, ist das wirtschaftliche Risiko. Ein selbstständiger Dienstleister muss eigenes wirtschaftliches Risiko tragen und am Markt eigenständig in Erscheinung treten.

Bezieht der Auftragnehmer sein gesamtes Einkommen oder nahezu sein gesamtes Einkommen (dauerhaft mehr als 83 %) von einem einzigen Auftraggeber, so ist dies ein erstes Indiz für eine Scheinselbstständigkeit. Hat der Auftragnehmer mehrere Auftraggeber und ein diversifiziertes Einkommen, so spricht dies maßgeblich gegen die Scheinselbstständigkeit.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit des Dienstleisters vom Auftraggeber ist also das Kriterium, mit dem eine Prüfung eingeleitet werden sollte, da sie praktisch zwingende Voraussetzung ist. Besteht keine wirtschaftliche Abhängigkeit des Auftragnehmers von einem einzelnen Auftraggeber, ist die Scheinselbstständigkeit nahezu auszuschließen.

2. Rechtsform und primäre Verantwortlichkeit

Steht ausdrücklich im Dienstvertrag, dass der Auftragnehmer für seine steuerlichen und versicherungstechnischen Angelegenheiten selbst verantwortlich ist, so ist dies ein Argument gegen die Scheinselbstständigkeit. Dieser Regelung muss allerdings auch eine Umsetzung folgen: Der Auftragnehmer muss sein Gewerbe anmelden und eine Betriebserfassung beim Finanzamt durchführen lassen. Zudem sollte er auch als Selbstständiger kranken- und haftpflichtversichert sein. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird die entsprechende Vertragsklausel nicht ins Gewicht fallen und zur Entlastung nicht genügen.

3. Vergütungsstruktur

Eine erfolgsorientierte, projektbezogene Vergütung ist in Arbeitsverträgen atypisch. Ein entsprechendes Vergütungsmodell ist ein gewichtiges Argument gegen eine Scheinselbstständigkeit. Selbstverständlich darf die entsprechende Regelung keine offensichtliche Umgehungskonstruktion sein.

Typisch für Arbeitsverträge sind zeitbezogene, insbesondere stundenbezogene Vergütungen. Diese sind auch in Dienstverträgen nicht unüblich, eine stundenbezogene Vergütung bedeutet nicht automatisch, dass der Dienstvertrag zum Arbeitsvertrag wird. Viel wichtiger ist die Zeiteinteilung.

4. Zeiteinteilung

Werden vertraglich feste Arbeitszeiten vereinbart, so ist dies ein gewichtiges Argument für das Vorliegen eines Arbeitsvertrages. Die Vereinbarung fester Arbeitszeiten mit Dienstleistern wird nur dann als plausibel angesehen, wenn dies nach der Art der Tätigkeit unumgänglich ist. Beispielsweise, weil sie mit einer Abteilung des Unternehmens eng zusammenarbeiten oder Services wie Kundendienst und Assistenz anbieten, die sinnvollerweise nur parallel zur Arbeitszeit erfolgen können.

Ein Richtwert an monatlich zu leistenden Stunden ist nicht mit der Vereinbarung fester Arbeitszeiten gleichzusetzen, allerdings sollte in diesem Fall das Recht zur freien Zeiteinteilung ausdrücklich im Vertrag festgehalten werden.

5. Weisungs- und Direktionsrecht

Kernelement des Arbeitsvertrages ist die weisungsgebundene Arbeit. Dienstleister arbeiten typischerweise weisungsfrei und erstatten lediglich Bericht an den Auftraggeber. Werden im Arbeitsvertrag Weisungs- und Direktionsrechte des Auftraggebers festgelegt, ist der Verdacht der Scheinselbstständigkeit nahezu sicher. Der Ausschluss des Weisungsrechtes sollte ausdrücklich festgehalten und danach auch eingehalten werden.

6. Arbeitsmittel und Arbeitsplatz

Der Dienstleister als selbstständiger Unternehmer wird regelmäßig seine eigenen Arbeitsmittel bereithalten. Wenn ein Dienstleister einen festen Arbeitsplatz mit Mitteln des Auftraggebers erhält, kann dies als Indikator für ein Arbeitsverhältnis dienen.

Wann immer möglich und sinnvoll, sollte auch die freie Wahl des Arbeitsortes vereinbart werden. Dies stellt ein gewichtiges Argument gegen die Scheinselbstständigkeit dar. Homeoffice-Vereinbarungen mit Arbeitnehmern sind typischerweise komplexer, da sie etwa spezielle Regelungen zur Arbeitszeiterfassung enthalten.

7. Private Sozialleistungen

Werden dem Dienstleister Leistungen des Unternehmens gewährt, die ihrer Struktur und Funktion nach für abhängige Beschäftigte konzipiert sind, so ist dies ein Indiz für ein Arbeitsverhältnis. Besonders ins Gewicht fallen dabei Leistungen, die eine langfristige Bindung des Dienstleisters an das Unternehmen implizieren, wie etwa betriebliche Rentenansprüche.

Bezahlte Weiterbildungen können ebenfalls eine stärkere Abhängigkeit des Dienstleisters vom Auftraggeber indizieren, doch gerade kurzfristigen Maßnahmen wie die Finanzierung einer einmaligen Weiterbildung durch den Auftraggeber können auch im Rahmen eines Dienstvertrages angemessen sein. Hier gilt es zu beurteilen, ob die Nebenleistungen des Auftraggebers langfristiger oder kurzfristiger Natur sind und inwieweit sie den Dienstleister stärker an das Unternehmen binden.

Fazit

Von Scheinselbstständigkeit wird dann gesprochen, wenn ein Auftragnehmer bei objektiver Betrachtung der Umstände faktisch Arbeitnehmer ist. Das Auftragsverhältnis ist dann als Arbeitsverhältnis einzuordnen, was weitreichende Konsequenzen auf Ebene des Zivilrechtes, des Sozialversicherungsrechtes und des Steuerrechtes hat. Dienstverträge sollen nicht zur Umgehung der arbeitsbezogenen Rechtsvorschriften genutzt werden, weswegen das Thema Scheinselbstständigkeit eine hohe praktische und prüfungstechnische Relevanz aufweist.

Tobias NIelsen - Autor im IQB Karrieremagazin
Autor
Tobias Nielsen

Tobias Nielsen studiert Rechtswissenschaften und Digital Humanities mit Fokus auf Legal Tech und Digitalisierung rechtlicher Vorgänge im wirtschaftlichen Kontext in Göttingen. Er ist Gründer und Chefredakteur des Wirtschaftsrechts-Blogs Unternehmensrecht Aktuell sowie Mitbegründer und CEO des Legal Tech-Startups IdeaJuris. Neben seinem Studium berät er Unternehmen in allen Fragen der Digitalisierung rechtlicher Vorgänge und der Erstellung und Vermarktung digitaler Produkte.

Scheinselbstständigkeit – Das Wichtigste in Kürze

  • Scheinselbstständigkeit bezeichnet das Phänomen, bei dem eine Person formal als selbstständig gilt, aber faktisch als Arbeitnehmer fungiert.
  • Zivilrecht, Sozialversicherungsrecht, Steuerrecht und in Extremfällen Strafrecht sind relevante Rechtsbereiche in Bezug auf Scheinselbstständigkeit.
  • Ein Hauptindikator für mögliche Scheinselbstständigkeit ist das Vorliegen eines Dienstvertrags zwischen zwei Unternehmern, wobei eine Partei eher als Arbeitnehmer fungiert.
  • Konsequenzen der Scheinselbstständigkeit können weitreichend sein und umfassen unter anderem nachträgliche Steuerzahlungen, Anpassungen des Sozialversicherungsstatus und in schwerwiegenden Fällen strafrechtliche Untersuchungen.
  • Scheinselbstständigkeit ist gegeben, wenn ein Dienstleistungsvertrag tatsächlich ein Arbeitsvertrag ist, der ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zur Folge hat.
  • Die Unterscheidung zwischen Arbeitsverträgen und Dienstleistungsverträgen ist komplex und erfordert eine differenzierte Betrachtung und Argumentation.
  • Schlüsselkriterien zur Unterscheidung können das wirtschaftliche Risiko, die Vertragsform, die Vergütungsstruktur, die Zeiteinteilung, das Weisungs- und Direktionsrecht, die Bereitstellung von Arbeitsmitteln und Arbeitsplatz sowie die Gewährung privater Sozialleistungen sein.
  • Um Scheinselbstständigkeit zu vermeiden, sollte auf die Vertragsgestaltung, das tatsächliche Arbeitsverhalten und die Vergütungsstrukturen geachtet werden.

Scheinselbstständigkeit — FAQs

Scheinselbstständigkeit bezieht sich auf eine Situation, in der eine Person als selbstständig bezeichnet wird, aber die rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen einer abhängigen Beschäftigung erfüllt.

Die Konsequenzen einer Fehlentscheidung können vielfältig sein und reichen von finanziellen Nachteilen bis hin zu rechtlichen Problemen.

Die Überprüfung der Scheinselbstständigkeit ist ein komplexer Prozess und beinhaltet die Anwendung einer Reihe von Prüfungsparametern, die auf der aktuellen Rechtsprechung basieren. Diese Parameter beziehen sich typischerweise auf die Art und Weise, wie eine Person ihre Arbeit ausführt, und auf das Ausmaß ihrer Abhängigkeit von dem Unternehmen, für das sie arbeitet.

In der Regel sind Arbeits- oder Sozialgerichte für die Beurteilung von Fällen von Scheinselbstständigkeit zuständig.