Praktikum beim Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY): Einblicke, Herausforderungen und Erfahrungen

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), umgangssprachlich auch als UN-Kriegsverbrechertribunal oder Haager Tribunal bekannt, war ein Ad-hoc-Strafgerichtshof mit Sitz im niederländischen Den Haag. Das ICTY wurde 1993 durch eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats etabliert und war bis zu seiner Schließung im November 2017 zuständig für die Verfolgung von in den Jugoslawienkriegen seit 1991 begangenen Kriegsverbrechen. Auch an internationalen Institutionen wie dem ICTY sind Praktika oder Wahlstationen möglich. Wie hoch sind die Hürden für ein solches Praktikum und welche Erfahrungen hält die Arbeit an einem internationalen Gerichtshof bereit?

Wahlstation im Referendariat an internationalen Gerichtshöfen

Ich habe 2015 die Wahlstation im Referendariat am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia – ICTY) verbracht, einem Ad-hoc-Strafgerichtshof der Vereinten Nationen (United Nations – UN), der zuständig war für die Verfolgung schwerer Verbrechen in den Kriegen in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien. Dort hingelangt bin ich durch eine Mischung aus Zufall und glücklichen Gelegenheiten. Wie also kommt man als Referendar:in an einen internationalen Strafgerichtshof?

Praktikum am ECCC — Nicht immer klappt es gleich…

Während eines Auslandssemesters an der Universidad Católica Andrés Bello in Caracas belegte ich einen Kurs im Völkerstrafrecht und war sofort begeistert: Das Strafrecht hatte ich mich schon seit Beginn des Studiums fasziniert und auch außerhalb des Jurastudiums interessierte ich mich für andere Sprachen, Staaten und internationale Zusammenhänge. Das Völkerstrafrecht schien alle diese Interessen zu kombinieren.

Zurück an der Freien Universität Berlin berichtete eine wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Vorlesung dann, dass eine Kollegin ein Praktikum beim Rote Khmer-Tribunal in Kambodscha (Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia for the Prosecution of Crimes Committed during the Period of Democratic Kampuchea – ECCC) absolviert hatte – das klang für mich unendlich spannend! Sie leitete mir netterweise auch die Kontaktdaten dieser Kollegin weiter. Diese vermittelte mir wiederum einen Kontakt zum ECCC, ich bewarb mich dort – und wurde abgelehnt. Doch die Idee hatte sich in meinem Kopf festgesetzt: Ich wollte an einen internationalen Strafgerichtshof. In der Wahlstation im Referendariat bot sich erneut die Chance und ich bewarb mich dann beim ICTY in Den Haag, diesmal mit Erfolg.

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Drei Monate am International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY)

Am ICTY als eine der wenigen bezahlten „Interns“

Am ICTY gilt man als Referendar:in als „Intern“, also als Praktikant:in. Der Vorteil, das Praktikum dort als Teil des Referendariats zu machen, ist, dass man wenigstens das Referendariatsgehalt erhält, auch wenn dieses für ein Leben in Den Haag eher knapp bemessen ist. Dennoch beneideten mich viele der anderen Praktikant:innen darum, da sie fast alle das Praktikum ohne jedes Gehalt absolvierten – ein System, das die UN bis heute beibehält.

Dadurch ist der Zugang zum Praktikum für Menschen mit wenig Vermögen stark eingeschränkt und gleichzeitig erlangten viele der dort fest angestellten Kolleg:innen den Job (auch) deshalb, weil sie zuvor an diesem oder einer anderen UN-Institution ein oder mehrere unbezahlte Praktika absolviert hatten. Aus meiner Sicht ein massives Gerechtigkeitsproblem.

Die Betreuung der Praktikant:innen hingegen war vom ersten Tag an beeindruckend. Es gab nicht nur eine gute und strukturierte Einarbeitung, sondern auch verschiedene Angebote speziell für die Praktikant:innen, wie z. B. wöchentliche Lunch and Learns zu einem breiten Angebot an Themen: Prozessrecht des ICTY, wie benutze ich Linked-In richtig, Bewerbungen schreiben, Beweiswürdigung etc.

Am ICTY gilt man als Referendar:in als „Intern“, also als Praktikant:in.

Andere (Rechts-)Systeme, neue Blickwinkel und „richtige“ Arbeit

Das Beste daran: Auch als Praktikant:in arbeitete man gleich voll mit. Es gab keine Beschäftige-dich-mal-hier- mit-Aufgaben, sondern ich war vom ersten Tag an mittendrin in der täglichen Arbeit des Teams der Trial Chamber I, also des Teams rund um die Richter der 1. Strafkammer, zuständig für das Verfahren gegen Ratko Mladić in der ersten Instanz.

Die drei Richter der 1. Strafkammer kamen aus den Niederlanden, Südafrika und Deutschland. Ich konnte also unmittelbar von drei sehr erfahrenen Richtern aus drei unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Rechtssystemen lernen. Zu meinen Aufgaben gehörte es, während der Verhandlung unterstützend im Gerichtssaal anwesend zu sein und Teile des Urteils zu verfassen, das später mehr als 1.000 Seiten umfasste.

Dies betraf sowohl die Sachverhaltsdarstellung als auch die Beweiswürdigung und die rechtliche Würdigung. Jeder „fertige“ Abschnitt (natürlich immer unter dem Vorbehalt des weiteren Verfahrensverlaufs) wurde im kompletten Team mit allen drei Richtern besprochen.

Selten habe ich so interessante rechtliche Diskussionen erlebt wie dort, wo Menschen aus unterschiedlichsten Ländern mit all ihren unterschiedlichen Erfahrungen in verschiedenen Rechtssystemen in einer Atmosphäre zusammengekommen sind, in der jede:r sich äußern konnte und Praktikant:innen mit erfahrenen Richtern um die richtige Bewertung und Formulierung rangen. Das Team bestand aus ca. sechs Praktikant:innen und etwa doppelt so vielen Mitarbeiter:innen.

Die Arbeitssprache war Englisch, es gab jedoch auch eine Kammer des Gerichts, die auf Französisch arbeitete. Auch technisch war das Gericht den meisten deutschen Gerichtssälen deutlich voraus: Die Verhandlungen wurden synchron in mehrere Sprachen übersetzt, live gestreamt und alle Beteiligten – Praktikant:innen eingeschlossen – hatten im Saal mehrere Monitore vor sich, um dort die digitalisierten Beweis- mittel anzuschauen und ggf. per E-Mail Rücksprache mit dem Team zu halten.

Inhaltlich war die Arbeit nicht immer leicht zu verkraften. Ratko Mladić war ein Kriegsverbrecher, der unter anderem für den Völkermord von Srebrenica im Juli 1995 verantwortlich war, bei dem mehr als 8.000 bosnische Männer und Jugendliche ermordet worden sind. Zur Arbeit gehörte also auch, mit schlimmsten Verbrechen konfrontiert zu werden, Zeug:innen zuzuhören, die von grausamen Taten berichteten und sich grauenhafte Bilder aus Gefangenenlagern anzuschauen. Das Verfahren gegen Mladić in der ersten Instanz dauerte von 2011 bis 2017 und er wurde unter anderem des Völkermords schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Erst am 8. Juni dieses Jahres, zehn Jahre nach Prozessbeginn, wurde das Urteil in der Berufungsinstanz bestätigt.

Das Leben in Den Haag

Das Leben in Den Haag glich eher dem in einem typischen Austauschsemester. Die Praktikant:innen des ICTY und der zahlreichen anderen internationalen Organisationen in Den Haag vernetzten sich schnell, gingen gemeinsam feiern und an den Strand (soweit das in dem nach Aussage der niederländischen Kolleg:innen kältesten und verregnetsten Frühsommer der letzten Jahre möglich war). Abends verweilten wir oft noch eine Weile mit Teamkolleg:innen auf der Terrasse des Gerichtsgebäudes. Den Haag ist eine schöne, kleine Stadt, in der alles mit dem Fahrrad erreichbar ist – als Berlinerin war das durchaus eine angenehme Abwechslung.

Die Arbeit des ICTY ist beendet, aber internationale Strafgerichte werden weiter benötigt

Der ICTY wurde am 31.12.2017, nachdem dort 84 Personen wegen schwerster Verbrechen im Zusammen- hang mit den Jugoslawienkriegen verurteilt worden sind, geschlossen. Andere internationale Strafgerichte, wie natürlich der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court – ICC), aber auch die etwas anders strukturierten (Sonder-)Tribunale für Libanon oder die Khmer-Rouge in Kambodscha gibt es immer noch. Ich kann euch ein Praktikum/Referendariat an einem internationalen Gericht nur ans Herz legen. Die Erfahrungen, die ich in Den Haag gemacht habe, begleiten mich bis heute.

Dieser Artikel erschien zuerst im mylawguide 2021, dem Karrierehandbuch für Juristinnen und Juristen.

Agnes Katharina Sander | Autorin bei IQB & myjobfair
Autorin
Agnes Katharina Sander

Agnes Katharina Sander studierte Rechtswissenschaft an der FU Berlin und an der UCAB in Caracas. Nach dem 2. StEx arbeitete sie im Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Seit 2019 ist sie Richterin in Berlin.